© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/12 07. Dezmber 2012

„Wenn’s so weitergeht, knallt’s“
Kriminalität: Seit an der Grenze nach Osten nicht mehr kontrolliert wird, leben die Menschen in Brandenburg und Sachsen immer unsicherer
Hinrich Rohbohm

Verträumte urige Gassen, komplett sanierte historische Gebäude aus Gotik, Renaissance und Barock in der Altstadt. Gästeführer laufen mit Besuchergruppen umher, zeigen stolz die zahlreichen sehenswerten Baudenkmäler der niederschlesischen Grenzstadt Görlitz, die sich derzeit sogar um den Titel „Weltkulturerbe“ bemüht. Touristen schlendern bei Sonnenschein und blauem Himmel auf der Altstadtbrücke über die Neiße, hinüber ins heute polnische Zgorzelec, jenen Teil von Görlitz, der durch die Grenzziehung nach 1945 von Deutschland getrennt worden war. Nach der Wende 1989 und dem EU-Beitritt Polens 2004 ist die Grenze kein Hindernis mehr, Polen und Deutsche pendeln problemlos zwischen den Orten, genießen die neue Freizügigkeit.

Doch mit dem Wegfall der Grenzkontrollen im Jahre 2007 hat die Idylle Risse bekommen. Autodiebstähle sowie Haus- und Garageneinbrüche sind in den Grenzregionen sprunghaft angestiegen. War es allein in der Stadt Görlitz 2008 bereits zu 82 Autodiebstählen gekommen, so stieg die Zahl im vorigen Jahr auf 154 an. Tendenz steigend. Die Täter haben leichtes Spiel. Denn an der Grenze endet der Zuständigkeitsbereich der deutschen Polizei.

„Die Politiker interessiert das doch gar nicht richtig, die verdrängen das Problem“, meint Sarah, eine 17 Jahre alte Schülerin des Görlitzer Augustum-Annen-Gymnasiums. Die zunehmenden Einbrüche und Autodiebstähle seien nahezu jedem in der Stadt bekannt. „Aber viele haben resigniert und nehmen das alles einfach so hin“, empört sie sich. An ihrer Schule gebe es binationale Klassen, in denen Deutsche und Polen gemeinsam unterrichtet werden. Was von den Verantwortlichen als Vermittlung von interkultureller Kompetenz gepriesen wird, hört sich bei Sarah ernüchternd an. „Viele polnische Schüler sind uns durch zahlreiche Diebstähle unangenehm aufgefallen“, schildert sie.

Auch außerhalb der Schule sei die steigende Kriminalität spürbar geworden. „Es gibt hier inzwischen Straßen, durch die ich nachts allein nicht mehr gehen möchte“, meint ihre gleichaltrige Freundin. Als Beispiel nennt sie die an der Altstadtbrücke gelegene Neißstraße. „Abends kommen da oftmals angetrunkene Polen über die Grenze. Da wird man dann schnell angelabert oder angerempelt.“ Einige würden gar gezielt auf Deutsche einschlagen. Unter ihren Freunden hat es sich längst herumgesprochen, daß es jenseits der Grenze Kampfsport betreibende polnische Cliquen gebe, die es sich zum Spaß gemacht hätten, am Abend über die Brücke zu kommen, „um Deutsche zu ‘klatschen’“. Die Schüler sprechen von Dojo-Clubs, in denen die zumeist jungen Polen trainieren. „Man sieht in letzter Zeit zwar schon mehr Polizeistreifen durch die Stadt fahren. Aber die stehen meistens an den falschen Stellen“, sagt Sarah. „Weil sie Angst haben, daß sie selbst eine reinbekommen“, meint ihr Mitschüler Tobias und lacht.

Der 18jährige kann sich noch gut an die Attacken mehrerer Dutzend junger Polen auf der Altstadtbrücke in der Silvesternacht 2010/2011 erinnern (JF 7/11). „Die fingen plötzlich an, uns zu schubsen und uns unsere Böller und Silvesterraketen zu klauen.“ Anderen hätten sie auch die Handys gestohlen. Seine Freunde und er hatten sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können, als die polnische Gruppe wenig später begann, auf feiernde Deutsche einzuschlagen und sie mit Messern zu attackieren. Die fliehenden Deutschen seien von der Gruppe verfolgt und durch die Neißstraße gejagt worden. Seitens der Polizei sei später lediglich von fünf bis sechs unbekannten Tätern die Rede gewesen. „Mehrere Mitschüler von mir hatten die Polizei gerufen, aber die kam einfach nicht“, erinnert sich auch Sarah an die Silvesternacht. Als die Beamten dann schließlich doch eingetroffen waren, seien die Täter vor ihren Augen auf die polnische Grenzseite geflohen.

Ein 67 Jahre alter Rentner zeigt hingegen Verständnis für die Beamten. „Die dürfen doch heutzutage gar nichts mehr machen“, meint er. Wenn da einer wirklich durchgreifen würde, hätte er sofort ein Verfahren am Hals. „Und ab der Grenze geht sowieso nichts mehr. Das wissen die Täter doch.“ Zu seiner Jugendzeit sei ein Polizist eine Respektsperson gewesen, diese Zeiten seien vorbei. Die hohe Arbeitslosigkeit in der Region habe zudem dazu geführt, daß auch Deutsche in die Kriminalität abrutschten und die nahe Grenze für unlautere Geschäfte nutzten.

„Nehmen Sie zum Beispiel den Rauschgiftschmuggel, der hier stattfindet. Da sind Deutsche genauso wie Tschechen, Polen, Litauer und auch Russen beteiligt“, erzählt ein 46 Jahre alter Maurermeister. Die Drogen würden zumeist nachts über die Grenze gebracht. „Die meiden die Straßen und gehen durch den Fluß; die Neiße ist hier an manchen Stellen ja nur knietief“, erklärt der gebürtige Görlitzer, der selbst ein ums andere Mal mit eigenen Augen Leute beobachten konnte, die nachts durch das Wasser über die Grenze wateten. Wie machtlos die Polizei gegen die Grenzkriminalität ist, sei ihm klargeworden, als sogar ein Autokran in Dresden gestohlen werden konnte und unbehelligt über die Grenze gelangte.

„Mir haben sie erst vor wenigen Wochen das Fahrrad gestohlen“, erzählt ein 19 Jahre alter Auszubildender, der mit seinen Eltern ganz in der Nähe der Görlitzer Altstadt wohnt. Sie hatten vergessen, die Kellertür abzuschließen. „Eine kleine Unachtsamkeit und schon war’s passiert.“ Er spricht auch von zahlreichen Diebstählen, die es auch in seinem Bekanntenkreis bereits mehrfach gegeben habe. „Viele sprechen zwar davon, daß die Täter Polen sind, aber genau weiß man das auch nicht. Bei meinem Rad können es auch Deutsche gewesen sein.“

Auch Nancy und Michelle wurden bereits die Fahrräder gestohlen. Die beiden 14 Jahre alten Schülerinnen aus Frankfurt/Oder haben sich mit ihrer Clique in der Nähe des Oderturms verabredet, einem Einkaufszentrum im Herzen der brandenburgischen Grenzstadt. Die beiden treffen sich hier nahezu täglich mit ihren Freunden, erleben die gestiegene Grenzkriminalität hautnah mit. „Einigen unserer Mitschüler ist schon öfter ein weißer Transporter mit polnischem Kennzeichen aufgefallen, der durch ihre Wohnstraßen fuhr. Wenige Tage später kam es genau dort zu mehreren Einbrüchen“, erzählt Nancy.

„Im Park läuft immer so eine alte polnische Oma rum und will Zigaretten verkaufen“, weiß ihre Freundin Michelle. Für zwei Euro die Schachtel wechsele die Ware ihren Besitzer. Dabei mache die Dame auch mit Jugendlichen Geschäfte. „Die wird immer wieder aufs neue von der deutschen Polizei aufgegriffen, aber einen Tag später schon wieder laufengelassen. Und dann ist sie wieder da“, schildert Michelle. Die beiden Jugendlichen finden die Grenzöffnung trotzdem gut. Wenn auch aus zweifelhaften Erwägungen. „Von der Klauerei mal abgesehen, finden wir das klasse.“ Ungeniert nennt sie den bezeichnenden Grund: „In Deutschland wollen sie im Laden den Personalausweis sehen, wenn wir Zigaretten haben wollen, in Polen kriegen wir die auch so.“ Zahlreiche Zigarettenläden haben sich direkt an der Grenze niedergelassen, verkaufen ihre Ware dort schon für 2,60 Euro pro Schachtel.

Dort dementiert man den Verkauf an Minderjährige. „Wir geben keine Zigaretten an Jugendliche“, beteuert ein nahe der Oderbrücke ansässiger Ladeninhaber. Auf deutsche Kundschaft hat er sich jedenfalls eingestellt. „Wir sprechen Deutsch, Zahlung in Euro ist möglich“, steht vor dem Geschäft geschrieben.

Auf der deutschen Seite der Brücke hat sich eine Polizeistreife postiert, beobachtet den Feierabendverkehr an der Grenze. Die einstigen Kontrollgebäude sind längst stillgelegt. Dunkel und verlassen stehen sie jetzt da, zum Teil bereits mit Graffiti beschmiert. „Die Polizei macht Stichprobenkontrollen, das kommt hier öfter vor“, erklärt eine 37 Jahre alte ortsansässige Versicherungsangestellte. Sie selbst habe noch keine negativen Erfahrungen nach dem Wegfall der Grenzkontrollen gemacht, auch bestohlen worden sei sie nicht. „Auf der polnischen Grenzseite haben tolle Restaurants eröffnet, man kann da gut und günstig essen gehen“, schwärmt sie. Aber: „Daß vermehrt geklaut wird, ist in unserer Stadt schon ein Thema, auch wenn ich nicht alles glaube, was so erzählt wird“, schränkt sie ein. Erst vor einigen Tagen hätten Kollegen von ihr auf einer Geburtstagsfeier über die zunehmenden Diebstähle lebhaft diskutiert. „Die Gemüter hatten sich daran erhitzt, daß immer stärker auch unsere heimischen Betriebe ausgeraubt werden“, gibt die Frau den Inhalt der Diskussion wieder.

Einzelfälle sind das nicht. Wie stark das Thema die Menschen in der Grenzregion bewegt, wurde im September dieses Jahres auf einer außergewöhnlich gut besuchten Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung deutlich. Betroffene hatten dort ihrem Unmut Luft gemacht, Staatsanwaltschaft und Polizei mußten einräumen, daß die Kriminalität eine neue Qualität erreicht habe, da organisierte Banden nun ganz gezielt bei Firmen einbrechen.

Bei der Inhaberin einer Gerüstbaufirma in Fürstenwalde waren die Täter einfach durch den Zaun des Betriebes gefahren, stahlen Geräte im Wert von 40.000 Euro. Die Firma bekam Auftragsschwierigkeiten, zwei Arbeitsplätze seien gefährdet, berichtete die Inhaberin auf der Veranstaltung. Der Fall sei vorerst nicht aufzuklären, hatte ihr die Staatsanwaltschaft mitgeteilt.

Selten ist so etwas nicht. Allein beim Fahrzeugdiebstahl liegt die Aufklärungsquote der Polizei bei maximal 15 Prozent. Tendenz fallend, denn die brandenburgische Landesregierung plant zudem, bei der Polizei Personalkürzungen vorzunehmen. Dabei hatten sich bereits vor einem Jahr fast 100 Unternehmer an den brandenburgischen Landtag gewandt und sich darüber beklagt, daß seit dem Wegfall der Grenzkontrollen die Diebstähle von Fahrzeugteilen, Kraftstoffen und Maschinen stark zugenommen hätten. In Deutschland entwendete Fahrzeuge werden zumeist über die nahe Grenze nach Polen oder Tschechien gebracht. In alten Garagen oder stillgelegten Betrieben unmittelbar hinter der Grenze werden sie dann bereits ausgeschlachtet und verwertet. Die Politik versucht derzeit, die Kriminalität durch eine verstärkte Kooperation zwischen deutschen und polnischen Behörden einzudämmen. Ein Unterfangen, das mancher Geschäftsmann als nicht ausreichend empfindet.

„Unsere Politiker wollen dem Treiben offenbar gar nicht mit aller Entschiedenheit entgegentreten“, ist etwa ein Ladenbesitzer im Stadtzentrum von Frankfurt/Oder überzeugt. Und prophezeit: „Wenn das hier so weitergeht, dann knallt’s bald richtig. Dann werden die ersten Leute anfangen, Selbstjustiz zu üben.“

 

Offene Grenzen

Es wird mehr Freiheit geben und nicht weniger Sicherheit“, behauptete der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) kühn, als vor fünf Jahren, im Dezember 2007, die Kontrollen an den Grenzen zu Polen und zur Tschechischen Republik eingestellt wurden. Sein Parteifreund Lorenz Caffier, Innenminister in Mecklenburg-Vorpommern, bestätigte lange Zeit diese Prognose: Es sei zu keinem signifikanten Anstieg der Kriminalitätszahlen im grenznahen Raum gekommen. Daß das Gegenteil stimmt, mußte inzwischen jedoch auch die Politik einräumen: Die offene Grenze nach Osten bedeutet mehr Kriminalität. Besonders der schwere Diebstahl (Autos, Bau- und Landmaschinen) sowie Einbrüche haben zugenommen. In der Grenzregion Brandenburgs ist die Kriminalitätsbelastung um rund 20 Prozent höher als im Durchschnitt des Landes.

Der Wegfall der Grenzkontrollen geht zurück auf das 1985 im luxemburgischen Schengen geschlossene Übereinkommen, dem bislang alle EU-Staaten (außer Bulgarien, Rumänien und Zypern) sowie Island, Norwegen und die Schweiz beigetreten sind.

Foto: Brücke zwischen Frankfurt/Oder und Słubice: Die Polizei steht meistens an der falschen Stelle

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