© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/12 07. Dezmber 2012

„Ein neues deutsches Jobwunder“
Endlich gute Nachrichten: Nach über vierzig Jahren kehrt die Vollbeschäftigung wieder nach Deutschland zurück! So sagt es zumindest der Wirtschaftsprofessor, Publizist und ehemalige FDP-Landesminister Karl-Heinz Paqué voraus.
Moritz Schwarz

Herr Professor Paqué, künftig wieder Vollbeschäftigung? Kaum zu glauben! Wie das?

Paqué: Weil ab 2020 die Babyboomer-Generation altersbedingt aus dem Arbeitsmarkt ausscheidet. Es geht dabei um mehrere Millionen Menschen.

So einfach ist das?

Paqué: Nein, deshalb habe ich ja auch ein ganzes Buch darüber geschrieben. Aber in einem Satz: Die Strukturkrise, die 1973 – nach einer Art Spätblüte der Überindustrialisierung in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren – begonnen und uns wachsende Arbeitslosigkeit gebracht hat und die 1990 noch einmal durch die Herausforderungen der Wiedervereinigung verlängert wurde, geht nun zu Ende.

Warum jetzt?

Paqué: Weil Deutschland die Anpassung vollzogen hat – der letzte Schritt ist jetzt die Verringerung des Angebots an Arbeitskräften durch die nun kommenden geburtenschwachen Jahrgänge.

Wie sicher ist Ihre Voraussage?

Paqué: Eine Prognose ist eine Prognose, also unsicher. Aber unter Maßgabe dieser üblichen Einschränkung bin ich doch recht zuversichtlich, daß es so kommen wird.

Zwischen all den Buchtiteln, die uns Krise, Untergang und „Crash“ voraussagen, wirkt Ihr Buch wie ein Jungbrunnen! – Dennoch, man bleibt skeptisch ...

Paqué: Dafür habe ich volles Verständnis, denn es entspricht nicht dem Zeitgeist. Aber der Zeitgeist hat eben viel zu viel Macht in Deutschland.

Inwiefern?

Paqué: Schauen Sie sich an, wie viele düstere Prophezeiungen der letzten Jahre nicht eingetreten sind.

2005 etwa wurde Deutschland prophezeit, zu einer „Basar-Ökonomie“ zu verkommen.

Paqué: Genau so war es, und gekommen ist statt dessen ein Wiedererstarken der deutschen Industrie! Oder nehmen wir das Krisenjahr 2009: Der Sachverständigenrat und die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sagten mehr als fünf Millionen Arbeitslose voraus. Heute haben wir weniger als drei Millionen und die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung. Ein gewaltiger Irrtum! Der Zeitgeist macht uns eben befangen in der Interpretation der Fakten.

Anders als nach dem Krieg beruht die von Ihnen vorausgesagte Vollbeschäftigung aber nicht auf Wachstum, sondern auf Schrumpfung. Ist das wirklich so gut?

Paqué: Es ist immer gut, wenn Arbeitskräfte Nachfrage spüren, das schafft Selbstvertrauen und vermindert den Widerstand gegen technische Fortschritte, die Arbeit sparen. Natürlich wächst eine hochentwickelte Industrienation wie Deutschland in der Zukunft nicht mehr so schnell wie in den fünfziger und sechziger Jahren. Aber ein Produktivitätswachstum von 1,5 bis zwei Prozent pro Jahr, das ist ohne weiteres zu machen.

Worauf fußt dieser Optimismus?

Paqué: Die deutsche Industrie hat ein hohes Maß an Wettbewerbsfähigkeit, auch dank der Arbeitsmarktreformen des letzten Jahrzehnts.

Wie können Sie sicher sein, daß wir bei wachsender globalisierter Konkurrenz unsere Marktanteile behaupten können?

Paqué: Sicher kann ich nicht sein, aber guter Hoffnung: Es ist der deutschen Wirtschaft gelungen, mit einer hochmodernen Industrie in der Globalisierung Fuß zu fassen – übrigens auch das entgegen den Vorhersagen vieler Kollegen. Dazu kommt nun eine demographische Schrumpfung. Das Zusammenspiel von beiden Faktoren führt dann irgendwann fast automatisch zur Vollbeschäftigung.

Wird es aber angesichts der Euro-Krise im Ausland noch genug Kaufkraft geben, um unsere Produkte zu kaufen?

Paqué: Kurzfristig ist das in der Tat ein Problem, aber langfristig bin ich optimistisch, da die Wachstumspole vor allem in den großen Schwellenländern liegen, vor allem in Asien, die bleiben an den deutschen Qualitätswaren interessiert.

Allerdings, früher gab es Vollbeschäftigung auch dank der vielen einfachen Jobs. Diese sind seit 1974 massiv verlorengegangen. Da aber nicht alle Arbeitslosen ausreichend qualifiziert sind, kann doch ohne diese – selbst wenn es quantitativ mehr als genug freie Arbeitsplätze gibt – Vollbeschäftigung dennoch nicht mehr erreicht werden.

Paqué: Auf kurze Sicht stimmt dies. Aber wenn der Arbeitsmarkt nicht genug qualifiziertes Personal hergibt, beginnen die Unternehmen erfahrungsgemäß systematisch Ausbildungsvorgänge in den Betrieb zu verlagern. Ein extremes Beispiel: Meine Familie hatte bis in die sechziger Jahre eine kleine Brauerei, und mein Vater fand damals als Geschäftsführer nicht genug Personal. Was hat er gemacht? Er hat entlassene Strafgefangene quasi direkt vom Gefängnistor wegrekrutiert. Zu anderen Zeiten, also ohne die extreme Knappheit an Arbeitskräften, hätte er dies nie getan.

Allerdings gibt es heute anders als damals ein Reservoir an quasi nicht vermittelbaren Einwanderern, woran etwa jüngst wieder Heinz Buschkowsky erinnert hat.

Paqué: Auch hier gilt: Ist der Mangel groß genug, werden die Unternehmen auch solche Arbeitnehmer integrieren, die unter anderen Bedingungen wenig Chancen hätten. Umgekehrt wird es für wirklich Arbeitsunwillige schwierig, Angebote abzulehnen, wenn ihnen gleich mehrere gemacht werden. Und noch etwas: Da, wo qualifizierte Arbeitsplätze entstehen, entstehen immer auch nichtqualifizierte Arbeitsplätze im Bereich persönlicher Dienstleistungen, und zwar allein wegen der knappen – und teuren! – Zeit. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist der „Dogwalker“ in Städten wie New York, London oder auch München: Er führt gegen Honorar Hunde aus, und zwar die Hunde von hochqualifizierten Arbeitskräften, die dafür während der Woche keine Zeit mehr haben.

Die Zeit der Vollbeschäftigung war auch die Zeit der Gastarbeiter. Wird mit der neuen Vollbeschäftigung eine zweite Welle massiver Arbeitseinwanderung einsetzen?

Paqué: Ja, die Vollbeschäftigung könnte aus Deutschland in der Tat so etwas wie ein Zuwanderungsland machen, eine Art neues Amerika in Europa. Deshalb brauchen wir auch ein vernünftiges Einwanderungsgesetz. Wir sollten uns rasch nach einem brauchbaren Modell umschauen, das Einwanderung ganz gezielt auf die entstehenden Engpässe am Arbeitsmarkt ermöglicht.

Einwanderung aus Europa können wir wegen der Reisefreiheit gar nicht kanalisieren.

Paqué: Das stimmt, aber es werden diesmal zunächst vor allem die Qualifizierten wandern. Das könnte für die Südeuropäer zum Problem werden, denn ein Land wie Spanien mit fast fünfzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit kann einen erheblichen Substanzverlust erleiden, wenn seine qualifizierte Jugend massiv zu uns kommt. Dies könnte das Wohlstandsgefälle in Europa noch steiler machen als bisher. Aber das ist der unvermeidliche Preis der Freizügigkeit, genauso wie zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands.

Nach Ende des Anwerbestopps 1973 sind die Gastarbeiter nicht mehr nach Hause gegangen, was in Zukunft wohl wieder so wäre. Wird Deutschland also nach einer zweiten Runde Vollbeschäftigung endgültig ein multikulturelles Land sein?

Paqué: Vermutlich ja, allerdings hatten wir damals eine ganz andere Struktur von Einwanderung: Es kamen nicht Qualifizierte, sondern Hilfsarbeiter. Diesmal dagegen wird die deutlichste Knappheit im Fachkräftebereich entstehen. Die Einwanderung der Zukunft wird also eine ganz andere Soziologie haben. Diese Einwanderer werden gute Bildung mitbringen, Englisch sprechen und sicher auch irgendwann Deutsch.

Wirkt die Vollbeschäftigung ausgleichend oder wird sie das innerdeutsche Ungleichgewicht verstärken: Quillt also schließlich der Süden über, während der Norden und Osten Deutschlands sich weiter leeren?

Paqué: Zunächst werden natürlich die boomenden Zentren des Südens profitieren. Aber wenn dort keine Arbeitskräfte mehr zu finden sind und die Mieten und Bodenpreise extrem ansteigen, wird wohl auch die Produktion zu wandern beginnen. Es ist aber schwer vorauszusagen, in welchem Ausmaß. In den sechziger Jahren hat das funktioniert, doch es läßt sich nicht garantieren, daß der Prozeß wieder genau so ablaufen wird. Viel hängt da auch von der Kommunalpolitik ab. Gewinner können Kommunen sein, deren Bürgermeister wissen, wie man sich als attraktiver Standort vermarktet. Haben sie aber eine Schlafmütze im Rathaus, wird die Ansiedlung anderswo stattfinden. Einige Städte im Osten, wie Magdeburg, wo ich selbst lebe, könnten profitieren, denn hier gibt es inzwischen alles, was man braucht: leistungsfähige Infrastruktur, gute Schulen und Hochschulen, viel Platz und günstige Preise.

Wird die Vollbeschäftigung auch mit steigenden Löhnen einhergehen? Schließlich erlebten die Deutschen in den letzten Jahren trotz eines kleinen „Wirtschaftswunders“ erhebliche Reallohnverluste!

Paqué: Ja, die Reallöhne werden steigen. Wir werden ein Stück weit das nachholen, auf was wir in den letzten Jahren verzichtet haben. Allerdings wird sich das nicht wie in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren durch von den Gewerkschaften erzwungene schnelle massive Lohnsteigerungen vollziehen, sondern eher als schleichender Prozeß.

Aber können Reallohnerhöhungen denn dauerhaft sein? Schließlich schmilzt unser internationaler Vorsprung auch wieder, wenn die Löhne nachziehen.

Paqué: Das stimmt zwar, aber wir haben uns durch die bisherige Lohnzurückhaltung etwa gegenüber Südeuropa immerhin um fast dreißig Prozent verbessert. Wir haben also bereits hinter uns, was andere noch vor sich haben. Außerdem haben wir in Deutschland eine hochinnovative mittelständische Industrie, die auch bei langsam zunehmenden Löhnen profitable Arbeitsplätze anzubieten hat. Allerdings warne ich: Das ist kein Freibrief, um der Industrie zusätzliche Lasten aufzubürden.

Zum Beispiel?

Paqué: Etwa wenn ich an die gegenwärtige Energiepolitik denke, die ich für ein abenteuerliches Unterfangen halte. Sie schafft Kosten, die unnötig sind und die nur darin begründet liegen, daß wir uns vollkommen unrealistische Ziele setzen, die ideologisch und nicht vernünftig sind. Und diese Ziele sollen wir im Alleingang gegen den Rest der Welt erreichen. Das ist riskant.

Die Schrumpfung, die uns die Vollbeschäftigung bringt, erzeugt aber auch ein enormes Rentenproblem. Warum bricht die Lohnerhöhung unter der künftigen Rentenbelastung nicht sofort wieder zusammen?

Paqué: Da ist er wieder, der Zeitgeist: In Deutschland bricht immer gleich alles zusammen! Nein, wir werden länger leben und länger arbeiten. Körperlich ist das für die meisten Beschäftigten auch möglich, denn es arbeiten nicht alle Deutschen als Dachdecker oder Maurer. Bleibt, einen Arbeitsplatz zu haben – aber auch da kommt uns das künftige Stellenüberangebot zugute: Bisher wurden Ältere möglichst früh in Rente geschickt, um Platz für Jüngere zu haben. Künftig werden die Firmen dagegen froh sein, ihre Älteren zu halten. Und sie werden ihnen auch Bedingungen im Betrieb bieten, die ihnen die Arbeit erleichtern.

Gut, aber was ist mit der Euro-Krise, der Staatsschuldenkrise oder neuen Weltfinanzkrisen? Genügt nicht, daß nur eine dieser Blasen platzt und der Vollbeschäftigung geht die Luft aus, bevor sie begonnen hat?

Paqué: Nochmals: Garantieren kann ich für nichts, aber ich bin optimistischer Realist. Zur Euro-Krise: Ich denke, wir werden sie in den Griff bekommen, auch wenn das schwere Entscheidungen verlangt. Zur Staatsschuldenkrise: Wir haben steigende Staatseinnahmen, im Zeitraum von 2005 bis 2015 in der mittelfristigen Finanzplanung um rund fünfzig (!) Prozent, über zweihundert Milliarden Euro. Es ist also nur eine Frage des politischen Willens: Wenn dieser besteht, kann die Verschuldung in, sagen wir, zwei Jahrzehnten abgebaut werden. Zu eventuellen Finanzkrisen: Das bleibt eine Gefahr, aber auch durch solche Krisen kann eine solide Volkswirtschaft mit guter Industrie halbwegs unbeschadet kommen. Deshalb lautet mein Appell: Nicht immer in das typische deutsche Unheilsgeschrei verfallen, sondern die Dinge anpacken: Wir können, wenn wir nur wollen!

 

Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué, der ehemalige FDP-Politiker war zunächst Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, bevor er an die Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg wechselte, wo er heute Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft ist. 1999 trat der Volkswirtschaftler, geboren 1956 in Saarbrücken, der FDP bei, deren Vize-Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt er von 2001 bis 2007 war. 2002 zog er in den Landtag ein und wurde Finanzminister im ersten Kabinett Wolfgang Böhmers. 2006 übernahm er statt dessen den Fraktionsvorsitz im Landtag, zudem war er von 2003 bis 2007 Mitglied des FDP-Bundesvorstands. 2008 zog er sich aus privaten Gründen aus der Landespolitik zurück, ist aber bis heute Vize-Vorsitzender des „Bundesfachausschusses Wirtschaft“ der FDP. Im Herbst erschien im Hanser-Verlag sein – ebenso „spannendes“ (Klaus von Dohnanyi) wie „scharfsinniges“ (Horst Möller) – drittes Buch: „Vollbeschäftigt. Das neue deutsche Jobwunder“.

Foto: Produktionsjubiläum bei VW (1953), deutscher Verkaufsschlager Golf VII (2012): „Die Strukturkrise, die vor 40 Jahren begonnen hat, geht nun zu Ende“

 

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