© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/12 30. November 2012

Ein Punktsieg ist möglich
Gaza: Israels präzise Militärschläge können neue Handlungsspielräume in Nahost eröffnen
Martin van Creveld

Boxkämpfe enden entweder mit einem K.o.-Sieg, oder ihr Ergebnis wird nach einem ziemlich komplizierten Punktsystem entschieden. Im Krieg gibt es keine Ringrichter, ansonsten verhält sich die Situation jedoch ähnlich. Eindeutige Entscheidungen sind dabei im Krieg eher noch seltener als beim Boxen. Einen einzelnen Gegner im Ring endgültig k.o. zu schlagen, wo er weder Unterstützung herbeirufen noch sich dem Kampf durch Flucht entziehen kann, ist eine Sache. Ein ganzes Volk oder eine Organisation dauerhaft kampfunfähig zu machen, ist etwas völlig anderes – erst recht, wenn es sich um Menschen handelt, die auf der anderen Seite einer Grenze leben und von außen Unterstützung erhalten.

Man nehme etwa die letzten Runden im arabisch-israelischen Konflikt. Im Jahr 2006 nahm die Hisbollah einige israelische Soldaten gefangen und beschwor dadurch den sogenannten Zweiten Libanonkrieg herauf. Rein militärisch gesehen war die Aktion kein großer Erfolg. Nachdem sie endlich vorbei war, mußten der israelische Verteidigungsminister und viele der Befehlshaber ihren Hut nehmen. Das politische Ziel, nämlich den Willen der Hisbollah zu brechen und sie zur Einstellung ihrer Provokationen zu zwingen, wurde hingegen erreicht.

Bei der Operation „Gegossenes Blei“ 2008/09 verhielt es sich genau umgekehrt. Die israelischen Streitkräfte hatten ihre Lektionen gelernt und schlugen sich militärisch gesehen sehr gut. Es gelang ihnen jedoch nicht, den Raketen der Hamas ein Ende zu setzen.

Mit anderen Worten, es ist durchaus möglich, daß ein Einsatz militärisch erfolgreich ist und dennoch sein Ziel verfehlt. Das Gegenteil ist ebenfalls möglich. Und was läßt sich über das Ergebnis der bislang letzten Runde – Operation Wolkensäule – sagen? Ähnlich wie 2006 und 2008/09 war der Militäreinsatz eine Reaktion auf eine unerträgliche Provokation. Kein Staat kann zulassen, daß seine Bürger mit Raketen beschossen werden, ohne darauf zu reagieren.

Verglichen mit der Operation von 2008/09 war der diesmalige israelische Angriff ein Muster der Planung und Präzision. Er zerstörte Hunderte von Raketenwerfern, Bunkern, Kommandozentralen, Kommunikationssystemen und ähnliches. Wie der israelische Stabschef General Gantz anschließend anmerkte: „Wir haben alles getroffen, was sich bewegte.“

Nutznießer dieser Präzision war vor allem die arabische Zivilbevölkerung, die sehr viel weniger Tote verzeichnete als bei den beiden vorherigen Operationen: Israelischen Angaben zufolge kamen auf der Gegenseite insgesamt 54 Zivilisten ums Leben – in einer Operation mit mehreren hundert Luftangriffen zumeist gegen Ziele in dichtbesiedelten städtischen Umgebungen, die auch noch oft absichtlich in schützender Nähe von zivilen Einrichtungen errichtet wurden.

Wie selbst einige arabische Zeitungen wohl oder übel zugeben mußten, hatten die israelischen Streitkräfte innerhalb einer Woche sehr viel weniger Araber getötet, als die syrischen oft an einem einzigen Tag umbringen.

Auf israelischer Seite gab es sechs Tote. Vier davon waren Zivilisten. Ein Grund für die niedrigen Opferzahlen dürfte darin gelegen haben, daß die Lektionen aus den zwei vorangegangenen Runden auf vorbildliche Weise verinnerlicht wurden.

Im Jahr 2006 wies die israelische Zivilverteidigung noch erhebliche Mängel auf. Sie wurde im Laufe der folgenden sechs Jahre wesentlich verbessert und wiederholt bei Übungen für den Ernstfall auf Herz und Nieren geprüft. Als der Ernstfall dann eintrat, funktionierte sie fast fehlerlos.

Auch das mobile Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ war eine große Hilfe. Es stellt eine echte technische Errungenschaft dar, über die derzeit kein anderes Land verfügt. Beim ersten Einsatz erwies es sich bereits als ungemein effektiv.

Ein Krieg kann jedoch durchaus auf einer Ebene erfolgreich und auf einer anderen ein Scheitern auf ganzer Linie sein. Werden auf die Operation Wolkensäule weitere Runden folgen, wie es bei Gegossenes Blei der Fall war? Oder aber eine (vergleichsweise) lange Periode der Waffenruhe wie an Israels Nordgrenze nach dem Zweiten Libanonkrieg? Das ist hier die Frage, wie Hamlet gesagt hätte.

Beantworten läßt sie sich momentan nicht. An Israels eigenen Intentionen kann kein Zweifel bestehen. Die Politiker in Jerusalem mögen alle möglichen komplizierten Sachverhalte anführen: Abschreckung etwa; oder die Notwendigkeit, die Palästinensische Autonomiebehörde vor der Hamas zu schützen; oder die Debatte darüber, ob es sinnvoll wäre, letztere anzuerkennen und mit ihr zu reden, anstatt auf sie zu schießen. In Wirklichkeit verfolgte die Operation nur ein einziges Ziel, nämlich den Raketenangriffen ein Ende zu setzen, um den Israelis in der südlichen Landeshälfte ein Leben in Frieden zu ermöglichen.

Die Lage der Hamas ist wesentlich komplexer. Einerseits hat es den Anschein, daß sie durchaus Erfolge erreicht haben – im Rahmen des Waffenstillstand-abkommens haben sich die Israelis einverstanden erklärt, über eine Lockerung der „Belagerung“ des Gaza-Streifens zu verhandeln. Der Hamas wird es zudem schwerfallen, ihren „Widerstand“, wie sie es bezeichnet, gegen Israel aufzugeben, bildet doch ebendieser Widerstand die Rechtfertigung ihrer Macht. Beide Faktoren deuten darauf hin, daß die Raketenangriffe weitergehen werden.

Vielleicht sogar eine Mehrheit der Israelis erwartet nichts anderes. Nachdem die Feindseligkeiten mit Unterbrechungen mittlerweile seit zehn Jahren anhalten, sind sie alles andere als glücklich darüber, daß die Operation Wolkensäule vorbei ist. Andererseits hat die militärische Infrastruktur der Hamas einige schwere Schläge hinnehmen müssen. Trotz aller orchestrierten „Sieges“-Feiern stellt der Tod von über hundert Kämpfern der Hamas bei geringfügigen israelischen Verlusten ebenfalls eine Enttäuschung für die Hamas dar.

Zudem sind Israel und die Hamas längst nicht die einzigen Akteure im Nahen Osten. Wenn wir im Uhrzeigersinn vorgehen, wäre zunächst die Hisbollah zu nennen, die bislang keinen Finger gerührt hat, um die Hamas bei ihrem ungleichen Kampf zu unterstützen. Die Syrer haben genug damit zu tun, sich gegenseitig umzubringen, und machen keinerlei Anstalten, in absehbarer Zeit damit aufzuhören. Der Irak, der unter Saddam Hussein den palästinensischen Terrorismus unterstützte und den Familien von Selbstmordattentätern Entschädigungen zahlte, ist von einem Staat auf einen geographischen Begriff reduziert worden.

Der Iran hat Waffen nach Gaza geschickt, aber sonst genausowenig wie 2008/09 oder 2006 irgend etwas unternommen, um zu verhindern, daß die israelische Kriegsmaschinerie über die Hamas hinwegrollte. Jordanien begnügt sich damit, wie immer über Israels Missetaten zu meckern. Mehr tut auch die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland nicht. In Tel Aviv wurde zwar ein Bus in die Luft gejagt, ansonsten gibt es jedoch keinerlei Anzeichen für einen großflächigen palästinensischen Aufstand.

Sowenig vor allem die neue ägyptische Regierung unter Mohammed Mursi Israel mag, hat sie doch in den vergangenen Monaten immer wieder unter Beweis gestellt, daß ein Krieg mit dem jüdischen Staat das letzte ist, was sie will. Tatsächlich wird sie beinahe alles tun, um einen solchen Krieg zu vermeiden, würde er doch angesichts des erbärmlichen Bildes, das die ägyptischen Streitkräfte derzeit abgeben, und des Mangels an Unterstützung aus anderen arabischen Staaten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer vernichtenden Niederlage enden. Insofern scheint eine Ausweitung des Konflikts auf die gesamte Region derzeit unwahrscheinlich. Europäer, die sich Sorgen um den steigenden Ölpreis machen, können ruhig in ihren Betten schlafen.

Kurz gesagt, die israelische Wolkensäule läßt die Hamas exponiert dastehen. Ihre Anführer sind unberechenbare Glaubensfanatiker, die in Israel den leibhaftigen Teufel sehen. Die ersten Zeichen stimmen jedoch vorsichtig optimistisch. Ganz entgegen ihren üblichen Gepflogenheiten reagierte die Hamas am vergangenen Freitag nicht auf den Tod eines Demonstranten, der nach israelischen Angaben beim Versuch, die Grenze zwischen Gaza und Israel zu überqueren, getötet wurde. Zudem gibt es Hinweise darauf, daß die Hamas-Führung sich zu einem Kurswechsel vom militärischen hin zum politischen Handeln entschieden hat, der sie mit der palästinensischen Autonomiebehörde auf eine Linie bringen würde.

Sollte dieses Szenario tatsächlich Realität werden, könnte Israel zu seiner großen Überraschung entdecken, daß es diese Runde nach Punkten gewonnen hat, und die Einwohner von Gaza, daß sie – so schwierig ihre Lage auch weiterhin bleiben mag – wenigstens nicht mehr in ständiger Angst vor Gewalt und Tod leben müssen.

 

Prof. Dr. Martin van Creveld: Der israelische Experte gilt als einer der „weltweit führenden Militärtheoretiker“ (taz) bzw. als „einer der renommiertesten Militärhistoriker der Gegenwart“ (Welt). Immer wieder erregt er mit unkonventionellen Thesen Aufsehen. Bekanntheit erlangte er 1991 mit dem Buch „Die Zukunft des Krieges“. Darin nahm er die Kriegsformen vorweg, mit denen sich der Westen seit dem 11. September 2001 konfrontiert sieht. Der Historiker an der Universität Tel Aviv wurde 1946 in Rotterdam geboren.

www.martinvancreveld.com

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