© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Der Pate von Hollywood
Filmlegende: US-Regisseur Martin Scorsese wird siebzig
Martin Lichtmesz

Ungefähr alle zwei Jahre läuft ein neuer Spielfilm von Martin Scorsese, in der Regel mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle, in den Kinos an. Der Name bürgt für niveauvolle Unterhaltung und handwerkliche Meisterschaft: „Shutter Island“ (2008) war eine unerbittliche Spannungsmaschine, „Hugo Cabret“ (2011) ein phantasievoller Kinderfilm für die ganze Familie in 3D. Für den brillanten Thriller „The Departed“ (2006) erhielt Scorsese, fast vierzig Jahre nach seinem Spielfilmdebüt, seinen ersten und bisher einzigen Regie-Oscar. Der Haken daran ist nur, daß der Film eine mehr oder weniger getreue Kopie des Hongkong-Streifens „Infernal Affairs“ (2002) ist.

Bei aller Virtuosität ist dem Regisseur eines verlorengegangen: der unverwechselbare „Touch“, der ihn einst zur Kultfigur des „New Hollywood“ werden ließ. Schon Anfang der neunziger Jahre mäkelte sein gestrenger Kollege Michael Haneke: „Martin Scorsese war ein Autorenfilmer und ist jetzt ein Kommerzfilmer, der völlig uninteressant geworden ist.“

In der Tat war der am 17. November 1942 in New Yorks „Little Italy“ als Sohn süditalienischer Einwanderer geborene Scorsese unter den jungen Wilden und Kinobesessenen seiner Generation wie George Lucas, Francis Ford Coppola (JF 15/09) oder Peter Bogdanovich der wohl Wildeste und Besessenste.

Geschult an europäischen Ikonoklasten ebenso wie an amerikanischen Klassikern brachte er jene Welt auf die Leinwand, die er selbst aus nächster Nähe kannte: Seine Frühwerke „Who’s That Knocking at My Door“ (1967) und „Mean Streets“ (1973), beide mit Harvey Keitel (JF 20/09) in der Hauptrolle, waren dynamische, unkonventionelle, unverhohlen autobiographische Momentaufnahmen aus dem gewalttätigen Leben junger italoamerikanischer Männer in New York.

In letzterem tauchte in einer Nebenrolle ein junger Schauspieler namens Robert De Niro auf, der Scorseses Filme der nächsten zehn Jahre wesentlich prägen sollte. Während sein aktueller Thronerbe DiCaprio wenig mehr ist als ein verläßlicher Star, der den notwendigen kommerziellen Appeal garantiert, war De Niro ein kongeniales „Alter ego“ des Regisseurs, dessen abgründige Charakterstudien zur Legende geworden sind.

Da ist etwa der einsame, psychisch labile „Taxi Driver“ (1976) und Vietnamveteran Travis Bickle, der Nacht für Nacht mit wachsendem Ekel ein urbanes Inferno aus Verbrechen, Prostitution und Drogenhandel durchquert, und von reinigenden Blutbädern träumt, die den menschlichen Abschaum von den Straßen spülen sollen. Oder der Boxer Jake LaMotta aus „Wie ein wilder Stier“ (1980), der in den vierziger Jahren zum Star aufsteigt, den seine unkontrollierte Gewalttätigkeit und krankhafte Eifersucht aber ebenso schnell wieder zu Fall bringen.

Oder der Narziß Rupert Pupkin, der besessen von der Idee ist, als Stand-up-Komiker zum „King of Comedy“ (1982) zu werden, und der zu diesem Zweck einen berühmten Showmaster (Jerry Lewis) entführt, um einen Fernsehauftritt zu erpressen.

Wie Scorsese selbst waren sie getriebene, explosive, neurotische Charaktere, im ständigen Kampf mit inneren Dämonen und aufzehrenden Ambitionen, lechzend nach Erlösung aus den inneren und äußeren Gefängnissen ihrer Existenz.

Dieses Motiv spitzte sich überraschend zu in seinem wohl am meisten mißverstandenen Film: „Die letzte Versuchung Christi“ (1988) nach einem Roman von Nikos Kazantzakis zeigte Jesus von Nazareth als geistigen Bruder des „Taxi Driver“, als heiligen Narren am Rande der Psychose, der nach langem Ringen den Weg des Opfers, der Selbstentsagung und des Martyriums wählt. Weit enfernt davon, „blasphemisch“ zu sein, ist „Die letzte Versuchung“ einer der wenigen Filme, die versuchen, die Gestalt Christi jenseits der Andachtsbildchen radikal ernst zu nehmen.

Scorsese hat oft den spirituellen, katholisch geprägten Subtext seines Werkes betont, und gerne die Anekdote erzählt, daß er als Kind entweder Priester oder Gangster werden wollte – antipodische Berufswünsche, die in den italoamerikanischen Slums seiner Zeit durchaus üblich waren.

Die Protagonisten seines Meisterwerks „Good Fellas“ (1989) entstammen dieser Welt, und haben zur Faszination und zur Abscheu des Zuschauers jeden Skrupel hinter sich gelassen: Voller selbstherrlicher Amoralität, aus nackter Gier nach Geld, Status, Glamour und Macht oder auch aus purer Lust und Laune rauben, prügeln, foltern und morden sich Henry Hill (Ray Liotta) und seine Kumpane (Robert De Niro, Joe Pesci) über drei Jahrzehnte hinweg durch den erbarmungslosen Dschungel der irisch-italienischen „Mobster“ New Yorks, bis auch sie zu Fall kommen.

Die zweieinhalbstündige, atemlos inszenierte Chronik nach einem Tatsachenbericht von Nicholas Pileggi bleibt der definitive Mafiafilm, an dem sich seither alle weiteren Vertreter des Genres messen lassen müssen. Das gilt auch für Scorseses für 2013 angekündigte Arbeit „The Wolf of Wall Street“, die in die Welt des großen Geldes, der Korruption und des hybriden Machtstrebens eintaucht, und damit wieder ureigene Themen des „Paten von Hollywood“ aufgreift.

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