© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/12 16. November 2012

Zivilisation ist nach der Zivilisation
Literatur: Warum es sich lohnt, den deutschen Klassiker Gerhart Hauptmann zu lesen
Thorsten Hinz

Gerhart Hauptmann beging 1932 seinen 70. Geburtstag. Ein ganzes Jahr lang wurde er gefeiert wie ein Popstar. Eine Reise durch die USA geriet ihm zum Triumphzug, der ihn bis ins Weiße Haus führte. Wieder zu Hause, erlebte er einen endlosen Reigen aus Festbanketten, Theateraufführungen, Ehrungen und Ansprachen. Berlin, Hamburg, München, Breslau, Frankfurt, Leipzig, Köln, Wien, Zürich, Prag usw. – alle wollten vom Glanz des Dichters und Nobelpreisträgers profitieren. In Champagnerlaune, heißt es, habe er einmal geäußert, es sei ja rührend, wie das deutsche Volk ihn feiere, aber – warum eigentlich? Den Hinweis auf sein dramatisches Werk, das nur mit dem Friedrich Schillers vergleichbar sei, beantwortete Hauptmann – der sich freilich als „Nachfolger Goethes“ fühlte – in unerschütterlicher Würde: „Ach, Schiller! Friedrich Schiller. Sehr begabt, sehr begabt!“

Was bei anderen den Verdacht fortgeschrittenen Größenwahns erregt hätte, geriet bei Hauptmann zur freundlichen Anekdote. Um die Persönlichkeit, die sich hier entäußerte, und ihr Werk zu erschließen, empfiehlt sich das duale Modell, das Friedrich Schiller im Essay „Über naive und sentimentalische Dichtung“ entwickelt hat. Wären sie Zeitgenossen gewesen, hätte der Weimarer Klassiker seinen Kollegen als Paradebeispiel für den „naiven“ Dichter angeführt, als einen, der die Welt als „ungeteilte sinnliche Einheit“ wahrnimmt, der „durch Natur, durch sinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegenwart“ wirkt und der durch das Zusammenspiel von naiver Denkart und Ausdruck eine unwiderstehliche Anmut erlangt: „(...) mit dieser naiven Anmut drückt das Genie seine erhabensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprüche aus dem Mund eines Kindes“. Dem Kind kann man unmöglich böse sein, selbst wenn es sich mit Goethe und Schiller vergleicht!

Dieser Dichter verstand sich als Medium. Seine Werke seien nichts weiter als die Visionen, Bilder, „Gesichte“, die ihn im Traum oder in schlaflosen Nächten überwältigten. Den Hausgenossen, denen er sie Tag für Tag diktierte, schien es, als spräche er in Trance und empfinge Botschaften aus fernen Sphären. Man mag das als priesterliche, vormoderne und anachronistische Attitüde belächeln, doch es bleibt eine Tatsache, daß die meisten „sentimentalischen“, mit „Schulverstand“ ausgestatteten Dichter neben ihm blaß aussahen. Nur die wenigsten verfügten über die funkelnde Ironie eines Thomas Mann, um ihre Zweifel, Selbstzweifel und widerstreitenden Gedanken in eine ästhetische Harmonie zu überführen. Umgekehrt war Hauptmann kein Denker oder Analytiker. Wenn er sich geistvoll und tiefsinnig gab, schwand seine Grazie und machte er sich lächerlich. Eine Ahnung von seiner Aura vermittelt die Figur des Mynheer Peeperkorn aus Thomas Manns „Zauberberg“: Im Gespräch erscheint er unbeholfen, fast verwirrt, doch seine königliche Persönlichkeit läßt den jesuitischen Schlaumeier Naphta und den demokratischen Rhetoriker Settembrini neben sich verzwergen.

Gerhart Hauptmann wurde vor 150 Jahren, am 15. November 1862, im niederschlesischen Bad Salzbrunn als jüngstes von vier Kindern des Hoteliers Robert Hauptmann und seiner Frau Maria geboren. Am 6. Juni 1946 starb er in seinem burgartigen Haus „Wiesenstein“, seiner schwer bedrängten Lebensarche im Riesengebirgsort Agnetendorf, der unter polnischer Verwaltung stand. Es erstaunt nicht, daß der aus der Anschauung schöpfende Dichter sich anfangs als Bildhauer betätigte und daß seine literarische Bedeutung vor allem in der Erneuerung des deutschsprachigen Dramas liegt. Durch ihn gewann es endlich wieder Anschluß an die soziale Wirklichkeit.

Seinen Einstand am Theater gab Hauptmann 1889 mit dem naturalistischen Drama „Vor Sonnenaufgang“. Die Premiere geriet zum Skandal. Eine Bauernfamilie, die durch Kohlevorkommen auf ihren Feldern zu Geld gekommen ist und dem Alkohol verfällt, war nicht das, was sich das Publikum unter dem romantischen Titel versprochen hatte. Sein berühmtestes Werk wurde 1893/94 uraufgeführt: „Die Weber“, ein beinahe episches Drama über die Hungerrevolte 1844 in Schlesien.

In sämtlichen Theaterstücken – selbst den mißlungenen – fällt Hauptmanns meisterliche Menschengestaltung auf. Die Figuren sind auf Anhieb als Charaktere faßbar. Und was für eine Charakterfülle er auf die Bühne gestellt hat: Sie reicht vom idealistischen, in der praktischen Bewährung jämmerlich versagenden Weltverbesserer Alfred Loth („Vor Sonnenaufgang“) über den gescheiterten Künstler („Michael Kramer“, 1900) und die verzweifelte Kindsmörderin („Rose Bernd“ 1903) bis zum brutalen Machtmenschen Klammroth („Vor Sonnenuntergang“, 1932).

Neben der sozialen und psychologischen gibt es bei Hauptmann noch eine dritte, die Schicksalsebene. Ihretwegen wird Hauptmann oft als fatalistisch, ja reaktionär gescholten. In Wahrheit hat sie alle emanzipatorischen Moden überdauert und dem Hauptmannschen Werk seine Zeitlosigkeit gesichert.

Kaum ein Literaturwissenschaftler und Journalist unterläßt den Vorwurf, daß Hauptmann 1933 in Deutschland blieb statt in die Emigration zu gehen. Sie begreifen nicht, daß der Dichter vom Schicksal eine zu hohe Meinung hatte, um anzunehmen, er könne ihm mit einer heroischen Geste in die Speichen greifen. Er wollte sich ihm auch nicht entziehen. Anders als Karl Kraus, dem zu Hitler nichts mehr einfiel, oder Thomas Mann, dessen überschätzter „Doktor Faustus“ dem Reeducation-Labor entstammt, hat Hauptmann die Innenseite der geschichtlichen Umwälzungen erfaßt, im Mythos gespiegelt und in größere Zusammenhänge gestellt. Am nachdrücklichsten in der zwischen 1940 und 1945 verfaßten Atriden-Tetralogie, in der er den Mythos um Iphigenie, Elektra und Orest im Licht der Gegenwart – der Gegenwart des Zweitens Weltkriegs – aktualisierte.

Mit dem 1940 vollendeten Drama „Iphigenie in Delphi“ trat er in den direkten Wettstreit mit Goethe – und bestand ihn glänzend! Goethes Titelheldin bewegt den Taurierkönig, vom Menschenopfer abzulassen und die Gefangenen freizulassen. Hauptmann hielt solche Idealisierung für weltfremd: „Das Grausen ist nirgend wahrhaft da. Hier sprechen allzu wohlerzogene, allzu gebildete Leute.“ Ihn interessierte das „Chthonische“, der Kampf zwischen den Göttern des Erdbodens und der Erdentiefe, des Gedeihens und des Todes, in dem die Menschen nur Marionetten sind. Hauptmanns Iphigenie hat zahlreiche Griechen geopfert, sie ist dem Menschlichen entrückt und stürzt sich am Ende in die Schlucht, während ihre Schwester Elektra, der Bruder Orest und dessen Begleiter Pylades entsühnt werden. „Vollendet ist der Ring: geschehen ist der Götter Ratschluß“, heißt es am Schluß.

Kurz vor seinem Tod sprach Hauptmann vom Ungehobenen in seinem Werk. Die Atriden-Dramen gehören dazu. Die Schilderung der vorzivilisatorischen Welt antizipiert das nachzivilisatorische Stadium, in das wir, wie es aussieht, im Begriff sind einzutreten und in dem die von den Göttern bestimmten Fronten entlang der sozialen Frage und des ethnisch-religiösen Tribalismus verlaufen. Hauptmann, der naive Dichter, hat offenbar mehr gewußt und weiter gesehen als andere.

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