© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

Mitleidige Spießer störten
Anders als NS-Propaganda und heutige Geschichtsklitterer behaupten, waren die meisten Deutschen von den Judenpogromen des 9. November 1938 entsetzt
Konrad Löw

Der 9. November wird in Deutschland auch „Schicksalstag“ genannt. Kein anderer Tag im Kalender ist seit knapp einhundert Jahren so reich an Ereignissen, die unsere Geschichte prägen.

Vor 23 Jahren, am Abend des 9. November 1989, wurde die Mauer durchlässig, die nicht nur Deutschlands Hauptstadt über Jahrzehnte hinweg geteilt hatte, sondern Deutschland selbst, ja Zentraleuropa. Der Weg zur Wiedervereinigung wurde frei, die zur allgemeinen Überraschung schon elf Monate später zustande kam.

Am 9. November 1938 inszenierte Goebbels den „spontanen Volkszorn“ gegen die Juden, die nun mit allen Mitteln aus Deutschland vertrieben werden sollten. Im Jahr 1923 versuchten an diesem Tag die Putschisten Adolf Hitler und General Erich Ludendorff in Bayern an die Macht zu gelangen, genau vier Jahre nachdem in Berlin die „Deutsche Republik“ ausgerufen worden war, am 9. November 1919.

So beglückend für die große Mehrheit der Deutschen der Fall der Berliner Mauer gewesen ist, so betrüblich ist die Reichspogromnacht. Der Diskriminierung der Juden seit 1933 folgte nun mit der „Reichskristallnacht“ ihre brutale Verfolgung. Hunderte wurden ermordet, über 30.000 in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald oder Sachsenhausen eingeliefert, die meisten Synagogen im Deutschen Reich eingeäschert, ungezählte Geschäfte und Wohnungen demoliert.

Das Mega-Verbrechen kündigte sich mit aller Gewalt an. Die Haupttäter sind hinlänglich bekannt. Sie hatten Hunderttausende, die ihnen zur Seite standen. Doch fand Hitlers Judenpolitik den Beifall der großen Mehrheit?

„Heitere Spiele“ waren angesagt, als sich die Jugend der Welt vor vierzig Jahren, 1972, in München traf. Aber es kam zu einer Katastrophe, zu einem terroristischen Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft. Die Vorgänge damals und die Entwicklung seither reflektierend schreibt Michael Wolffsohn: Regierung, Presse und Öffentlichkeit Israels hätten nach dem Attentat ihre Sicht Deutschlands von Grund auf revidiert. Sie „waren nun über Nach-Hitler-Deutschland entsetzt. Der Deutschen ‘Umerziehung’, die nicht zuletzt Israel und die jüdische Welt gewollt hatten, hatte gewirkt, nur nicht im Sinne ihrer Mit-Erfinder.“ Vortreffliche Worte!

Ein Ziel der Umerziehung war es, den Deutschen ihre Mitschuld an den NS-Verbrechen bewußt zu machen. Wer keine eigenen Erfahrungen in Deutschland selbst hatte sammeln können, glaubte offenbar dem Reichspropagandaminister und seinem Slogan: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, mit der Konsequenz der Mittäterschaft des Volkes an Hitlers Verbrechen. Doch allzu viele Deutsche wußten es besser und teilten die Überzeugung Adenauers, die er in amtlicher Eigenschaft als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland vor dem Plenum des Deutschen Bundestages am 27. September 1953 abgegeben hatte: „Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt.“ Das Protokoll vermerkt: „Lebhafter Beifall im ganzen Haus außer bei der KPD und auf der äußersten Rechten.“ Der Text war vorher sogar von Repräsentanten des Judentums abgesegnet worden.

Aber in Israel gab es starke Kräfte, die gegen dieses Selbstwertgefühl der Deutschen Sturm liefen. Wolffsohn erwähnt Premier Menachim Begin, der „Wehrmachtsoffizier“ Helmut Schmidt und das deutsche Volk der Kollektivschuld am Holocaust bezichtigt hatte. Diese Agitation fiel nicht nur in Israel auf fruchtbaren Boden, sondern auch in den USA und in Deutschland.

So entstand 2001 in Amerika das Buch „Backing Hitler“, das, rasch ins Deutsche übertragen, von der Bundeszentrale für politische Bildung gratis massenweise vertrieben wurde. Titel: „Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk“. Der Verfasser, Robert Gellately, wird darin als Professor für die Geschichte des Holocaust am Center for Holocaust Studies (USA) vorgestellt, sein Werk mit den Worten gepriesen: „Der Autor (…) beweist stichhaltig, daß die Deutschen nicht nur von den Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber wußten, sondern (…) weit aktiver, als bisher bekannt war, mithalfen – durch Zustimmung, Denunziation oder Mitarbeit.“

Doch wer das Buch kritisch prüft, kommt zu der Erkenntnis, daß es sich um ein höchst anfechtbares Produkt handelt, in dem die Einlassungen der Zeitzeugen fast zur Gänze unberücksichtigt bleiben, weshalb der Vertrieb auf massive Interventionen hin eingestellt werden mußte.

Gerade den Novemberpogrom betreffend gibt es zahlreiche vorzügliche Zeitzeugenberichte aus fast allen Teilen Deutschlands, von Juden und Nichtjuden, von Deutschen und Ausländern, Journalisten und Diplomaten, die von jeweils anderer Warte aus das Verhalten der Nichtjuden den Juden gegenüber beobachtet haben und der großen Mehrheit Komplimente machen: „Zur Ehre des deutschen Volkes sei es gesagt …“, schrieb damals der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung.

Hier ist nur Raum für einige Beispiele, die jedoch typisch sind. So schildert der bekannte Journalist Gerhard Löwenthal in seiner Biographie „Ich bin geblieben“, wie er, als am 10. November 1938 der Tumult begann, sofort auf die Straße gelaufen sei, um zu sehen, was los sei. Er nahm viele Menschen wahr, die „stumm und betroffen, einige offenbar in ohnmächtiger Wut, die Feuersbrunst beobachteten“. Nochmals Berlin, Ort der Handlung das Auswärtige Amt. Mit Riesenaufwand hat man in den letzten Jahren seine Geschichte zu rekonstruieren versucht. Ergebnis: „Das Amt und die Vergangenheit“, erschienen mit großem Applaus 2010. Obwohl das Werk 880 Seiten zählt, bleiben höchst aufschlußreiche einschlägige Bekundungen von absolut glaubwüdigen Zeitzeugen unberücksichtigt, so die Aufzeicnungen des Ernst Marcus, eines namhaften Juden. Er sollte während des Pogroms vom November 1938 für die Reichsvertretung der Juden eine Verbindung mit dem Auswärtigen Amt herstellen, was ihm auch gelang. Sein Bericht lautet: „Im Auswärtigen Amt erlebte ich den ersten Eindruck offenen Abscheus. (...) Entgegen seiner Gewohnheit, mich allein zu empfangen, war er [Otto v. Hentig, der Leiter der Orientabteilung] von einigen Attachés seines Referates umgeben. Alle Anwesenden waren mir persönlich bekannt. Hentig (…) drückte mir unumwunden seinen Abscheu gegenüber den Ereignissen aus. ‘Ich schäme mich für mein Volk’, diese herausgestoßenen Worte blieben mir im Gedächtnis. Einer der Attachés – alle gehörten der SS an – fügte hinzu: ‘Glauben Sie mir, wir werden diese Taten büßen müssen. Dieser Tag bleibt nicht ungesühnt.’“

Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hatte versucht, alle Welt glauben zu machen, „spontaner Volkszorn“ habe den Pogrom ausgelöst. Eine dreiste Lüge, ohne jeden wahren Kern. Nicht ohne Grund ist er als notorischer Lügner in die Geschichte eingegangen. Doch auch Goebbels scheidet als glaubwürdiger Zeuge nicht von vornherein aus. Der nachfolgende Text („Redner-Informationsmaterial – Veröffentlichung, insbesondere in der Presse, verboten“) ist ihm sicher sehr schwergefallen, straft er doch seine amtlichen, an die Öffentlichkeit gerichteten Aussagen Lügen. „Juden und Judenknechte“ entschleiert die Wirklichkeit wohl besser als jedes andere Dokument: „Der Reichspropagandaleiter gibt bekannt: Bei der Durchführung verschiedener einschneidender Maßnahmen in den vergangenen Tagen gegen das Judentum hat sich gezeigt, daß ein großer Teil des Bürgertums für die durchgeführten Maßnahmen geteiltes Verständnis aufbringt. Zum größten Teil laufen diese Spießer und Kritikaster herum und versuchen, Mitleid mit den ‘armen Juden’ zu erwecken mit der Begründung, daß Juden auch Menschen seien. Bis zur Machtergreifung hat in bürgerlichen Zeitungen nie ein Wort über den Juden, auf keinen Fall aber ein abfälliges Wort gestanden. Die Masse der Bevölkerung, die nicht in der Kampfzeit und auch späterhin nationalsozialistische Zeitungen regelmäßig gelesen hat, hat damit nicht die Aufklärung erfahren, die für die Nationalsozialisten im Kampf ohne weiteres gegeben war. Dieses Versäumnis ist daher nachzuholen.“

In dem Maße, in dem es den Umerziehern nach dem Sieg der Alliierten gelungen ist, die Geschichte zu entstellen und aus einer Tyrannis ein Tätervolk zu machen, hat man der Mehrheit der Deutschen das Gefühl historischer Minderwertigkeit und feiger Unsicherheit eingeflößt, verbunden mit dem Bestreben, selbst unangreifbar rechtschaffen zu sein. Anstatt leichtfertig, wenn nicht sogar böswillig Schuldgefühle zu verbreiten, hätte das Ringen um die rechte Erkenntnis die Erzieher leiten sollen.

 

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Zuletzt widmete er sich dem Thema Judenverfolgung und Kollektivschuld publizistisch im Jahr 2010 mit dem im Münchner Olzog-Verlag erschienenen Buch „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen“.

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