© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/12 09. November 2012

Pankraz,
H. W. Richter und die Tagebücher

Literaturfreunde und Zeithistoriker seien gewarnt: Die Tagebücher von Hans Werner Richter aus den Jahren 1966 bis 1972, die jetzt unter dem Titel „Mittendrin“ im Münchner Verlag C.H. Beck erschienen sind (382 Seiten, 24,95 Euro), bieten ganz überwiegend langweilige, zähe Lektüre. Richter, der Erfinder und Organisator der Vorleser- und Kritiker-„Gruppe 47“, war kein guter Schriftsteller. Es gab bei ihm nur Zeitgeistmüll, keine originellen Einfälle, keine interessante Schreibe.

Gesprochen wird bei denen, die das Buch gelesen haben, denn auch nur über die paar Stellen, wo sich Richter über einige Zelebritäten äußert, die er zu Lesungen eingeladen hatte und denen er äußerlich um den Bart ging. In „Mittendrin“ steht nun, was er wirklich von ihnen hielt. Martin Walser? „Ein gefährdeter Psychopath, der immer dann, wenn er sich in einer schöpferischen Krise befindet, nach dem Strohhalm Politik greift.“ Hans Magnus Enzensberger? „Ein internationaler Abenteurer und literarischer Playboy.“ Günter Grass? „Der verliert, je mehr er sich in die Parteipolitik verstrickt, immer mehr an Humor.“

Mag sein, der Tagebuchschreiber liegt mit seinen Urteilen nicht immer falsch, aber das Ganze wirkt trotzdem unsympathisch, klingt nach Neid und Minderwertigkeitskomplex. „Warum hat er das denen denn nicht offen ins Gesicht gesagt?“ fragt sich der Leser, „und wenn er nach außen schwieg, warum schwieg er dann nicht auch abends im stillen Kämmerlein, machte sich stattdessen hämisch über die lustig, denen er tagsüber geschmeichelt hatte?“

Tagebuchführen ist über derlei Praktiken – Richter (1908–1993) steht mit seinem Verhalten ja beileibe nicht allein – in schiefe Beleuchtung geraten. Man nimmt es überwiegend nur noch als Instrument zum Abreagieren von Rankünen wahr, wo also einer über einen anderen, der angeblich sein Freund und Weggefährte ist oder war, boshafte Dinge verlautbart, zur Gaudi eines geistig anspruchslosen, einzig auf Denunziation und Hintertreppengerüchte versessenen Publikums. Hat es dergleichen aber verdient?

Es ist ein recht modernes, neuzeitliches Literaturgenre; als sein Erfinder gilt der deutsche Renaissancegelehrte und Altphilologe Martinus Crusius (1525–1607), der in Tübingen lehrte und eine damalige Weltberühmtheit war. Vorher hatte es überall nur „Chroniken“ gegeben, von Mönchen und Staatssekretären verfaßt und strikt überindividuell gehalten, und bei den Bauern und Kaufleuten gab es sogenannte „Merkbücher“ für den praktischen Arbeitsgebrauch.

Außerdem gab es im Japan des frühen Mittelalters eine Zeitlang die sogenannten „Kopfkissenbücher“, in denen kleine Prinzessinnen am Kaiserhof von Kyoto ihre intimen Liebesverhältnisse festhielten und von denen einige erhalten sind. Jene lässige Mischung indes aus privaten Bekenntnissen und eiligen Werkskizzen, Erinnerungsfetzen und tastenden Vornahmen, Selbstanalysen und aktuellen Lageanalysen – sie erschienen tatsächlich erstmals in den „Diarien“ des Martin Kraus alias Martinus Crusius. Der Mann war ein Wegeleger von epochaler Durchschlagskraft.

Alles, was man auch aus neuesten, angeblich intimen, früher oder später aber doch zur Veröffentlichung bestimmten Tagebüchern der Moderne kennt, erscheint bereits in den Krausschen Diarien des 16. Jahrhunderts. Da gibt es Wehklagen über Körperbeschwerden, Bemerkungen über Lesefrüchte, Gespräche und aktuelle politische oder kulturelle Vorgänge – doch vor allem maliziöse Kurzporträts von Kollegen und Konkurrenten, welche seitdem so machtvoll (und unheilvoll) Schule gemacht haben.

Über den Erkenntniswert von Tagebüchern für die historische Forschung sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Wirklich Unbekanntes und eventuell Wichtiges erfährt man daraus allenfalls über den Tagebuchführer selbst. Das monumentale, von der Forschung eifrig genutzte Diarium des britischen Marine-Staatssekretärs Samuel Pepys (1633–1703) steht als absoluter Solitär da. Selbst die umfänglichen Tagebücher etwa von Thomas Mann oder Selma Lagerlöf verblassen dagegen vollkommen. Sie sind im Grunde überflüssig, entstellen die Statur des Schreibers eher, als daß sie sie farbiger machten.

Dokumentiert wird meistens nur die „Kammerdiener-Perspektive“, wie Hegel es nannte, will sagen: Es geht um Intimitäten des Alltags, die eigentlich nur Kammerdiener interessieren – und eben leider auch den Tagebuchschreiber selbst, was sich dann negativ auf seinen Stil auswirkt. Tagebuchführen ist für ihn letztlich keine „richtige Arbeit“, es geht kaum noch um Form, nur um Mitteilung. Sogar wenn der Autor ins Auge faßt, sein Tagebuch irgendwann zu veröffentlichen, ist diese gewisse Wurstigkeit noch am Werk. Der Leser „soll“ ja teilhaben, er soll den Dichter so erleben, „wie er wirklich ist“. Also läßt der sich gehen.

Wenn heute immer mehr Tagebücher auf den Markt geworfen werden (und der Autor ist noch nicht einmal gestorben!), so ist das kein gutes Zeichen. Die stilistischen Qualitäten vermindern sich, der schlecht-populären Gier der sogenannten Öffentlichkeit nach intimen Schlüpfrigkeiten und boshaften Fußtritten gegen Kollegen und Zelebritäten wird ungeniert Nahrung gegeben. Und ihre fragwürdige Praxis schlägt oft auf die Autoren zurück. Einige von ihnen erscheinen nun bestenfalls als eitle Fatzkes, schlimmstenfalls als hinterhältige Feiglinge, die nicht wagten, offen das zu sagen, was an sich gesagt werden sollte.

PS: Auch Pankraz hat einst Tagebuch geführt. Er war da freilich noch sehr jung und dachte im Traum nicht an Veröffentlichung. Es waren Herzensergießungen eines unerfahrenen Jünglings, mit politischen Meinungen dazwischen, die in der DDR offiziell unerwünscht waren. Eines Tages brach die Stasi in sein Zimmer ein, wühlte alles um und nahm das Tagebuch mit. Später wurde er dieser Eintragungen wegen angeklagt und zu schwerer Haft verurteilt. Vielleicht hat er nun ein Tagebücher-Trauma.

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