© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/12 02. November 2012

Lockerungsübungen
Verantwortung der Wissenschaft
Karl Heinzen

In der mittelitalienischen Stadt L’Aquila hat ein Gericht sechs Seismologen und einen Regierungsbeamten wegen fahrlässiger Tötung zu je sechs Jahren Haft verurteilt. Die Delinquenten wurden für schuldig befunden, als Mitglieder einer Expertenkommission am 31. März 2009 die Bevölkerung der Abruzzen unzutreffend über die akute Erdbebengefahr informiert zu haben. In den Wochen zuvor waren die Bewohner der Region um L’Aquila durch einige leichtere Erdstöße aufgeschreckt worden. Die Experten versicherten ihnen jedoch, daß keine größeren Risiken bestünden. Um so größer war die Überraschung, als am 6. April ein Erdbeben das Gebiet heimsuchte, dessen Bilanz sich auf 309 Todesopfer, über 1.600 Verletzte, 65.000 Obdachlose und einen Sachschaden in zweistelliger Milliardenhöhe belief.

Das Ausmaß der Verwüstungen wurde seinerzeit vor allem auf mißachtete Bauvorschriften zurückgeführt. Mit dem Urteil von L’Aquila sind nun jedoch die Hauptverantwortlichen für die Naturkatastrophe ausgemacht worden. Dies dürfte insbesondere die Opfer zufriedenstellen, bei denen die Wiederaufbauhilfe bis heute nicht ankommen konnte, weil sie in landesüblicher Manier zwischen demokratisch legitimierten Vertretern des Staates und der zivilgesellschaftlich tonangebenden Mafia aufgeteilt wurde. Wissenschaftler hingegen sollten der Versuchung widerstehen, blinde Solidarität gegenüber ihren verurteilten Kollegen zum Ausdruck zu bringen, haben sie doch vielmehr allen Anlaß, Genugtuung über die Bedeutung zu empfinden, die die italienische Justiz ihnen beimißt. Sie phantasieren nicht im Elfenbeinturm, so die Botschaft, sondern tragen Verantwortung für unsere Gesellschaft.

Allerdings sollten sie sich auch bemüßigt fühlen, etwas vorsichtiger mit ihren Verlautbarungen zu sein. Falls das Beispiel der Richter von L’Aquila Schule macht, werden sich in Zukunft auch Meteorologen für unzutreffende Wettervorhersagen und Psychologen für ausbleibendes Lebensglück der Menschen verantworten müssen. Vor allem aber dürften es die Ökonomen sein, die ihre Schlüsse zu ziehen haben. In den vergangenen Jahren lagen sie mit ihren Prognosen fast immer daneben, weil sich die Wirklichkeit ihren Modellen entzog. Für sie wird es daher wohl das beste sein, einfach gar nichts mehr zu sagen.

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