© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

Für Rußland, gegen Stalin
Die fast vergessene antisowjetische Organisation NTS und ihr Wirken bis heute
Friedrich-Wilhelm Schlomann

NTS – nur ganz wenige Ost-Experten erinnern sich an jene drei Buchstaben, obwohl diese während des Kalten Krieges oft in westlichen Zeitungen standen und Biographien einstiger DDR-Bewohner häufig das Auftauchen von russischsprachigen Flugblättern erwähnen. Diese russische, antisowjetische Widerstandsbewegung geht auf das Jahr 1930 zurück, als viele nach der kommunistischen Machtergreifung in Rußland Geflohene den NTS („Narodno Trudowoj Sojus“ – „Nationaler Bund der Schaffenden“) gründeten. Ende 1945 gruppierten sich die Überlebenden um eine Druckerei mit kyrillischen Druckplatten in Limburg/Lahn.

Von West-Berlin aus richteten sie sehr bald ihre Propaganda an die sowjetischen Besatzungssoldaten in der Ostzone. Deren verschiedenartige Flugblätter sollten ihnen zeigen, daß eine bessere Welt als die brutale Diktatur des Sowjetkommunismus existiert. Stets hieß es: „Verbreite diesen Aufruf. Bilde eine Gruppe von nicht mehr als zwei oder drei Freunden, denen Du vollkommen vertraust und arbeite mit ihnen zusammen. Tod den Tyrannen!“ Während des DDR-Volksaufstandes 1953 wandte sich die Organisation an sie mit einer Extra-Ausgabe: „Schieß nicht auf die unbewaffnete Volksmenge! Sie verlangt nur das, wovon Du träumst: Freiheit!“ Manche ihrer Flugblätter zeigten auf der einen Seite eine täuschend nachgedruckte 25- oder auch 100-Rubelnote, die Rückseite hingegen attackierte den Kreml. Die NTS-Zeitung Possev erschien auf Dünndruckpapier, wurde echten Sowjetzeitungen beigelegt und verschickt. Die Prawda und besonders das Armee-Blatt Sowjetskaja Armija fälschte man: Der Kopf der Zeitung sowie die obere Hälfte der ersten Seite wurden originalgetreu nachgedruckt, der weitere Inhalt enthielt NTS-Thesen.

Die Einschleusung des Materials in die DDR erfolgte zumeist mit großen Heißluftballons, die in einer Höhe von 3.000 Metern flogen und ihre 10.000 Flugschriften über einem in etwa vorausbestimmten Gebiet zur Erde fallen ließen. Besonders bei Manövern flatterten viele Zehntausende kleiner Handzettel auf die Soldaten herab. Diese mußten zumeist sofort das „verseuchte“ Gebiet räumen, während DDR-Schulkinder zur „Säuberung“ eingesetzt wurden. Auch DDR-Bürger, die in der Nähe sowjetischer Kasernen lebten, erhielten per Post NTS-Druckschriften mit der Bitte, sie dort einzuschmuggeln.

Die Auflage der in die DDR verbrachten Flugblätter steigerte sich bis 1954 auf allmonatlich vier Millionen, für die spätere Zeit sollte man eine wachsende Zahl unterstellen. Nach Stasi-Akten wurden in der zweiten Jahreshälfte 1956 knapp 10.000 Postsendungen mit NTS-Schriften abgefangen und annähernd 737.000 per Ballons „eingeflogene“ Flugblätter. Im Vergleich zur Gesamtzahl des eingeschleusten Materials eine nur geringe Zahl.

Der XIII. Abteilung der Ersten Hauptverwaltung des KGB, zuständig für „Nasse Sachen“ (Entführungen, Ermordungen) gelang es mehrfach, NTS-Mitglieder aus West-Berlin und West-Deutschland zu kidnappen. Das NTS-Führungsmitglied Alexander Truchnowitsch starb noch während seiner Verschleppung. KGB-Hauptmann Nikolaj Chochlow sollte den NTS-Führer Georgij Okolowitsch mit einer elektrisch gesteuerten Waffe ermorden, die mit einem Schalldämpfer ausgestattet und in einer Zigarettenschachtel versteckt war; er trat indes zum Westen über und enthüllte alle Details. Einem DDR-Kriminellen bot Moskaus Geheimdienst 20.000 Ost-Mark für die Erschießung des NTS-Präsidenten Wladimir Poremski, doch auch er offenbarte sich. Erfolgreich waren allerdings mehrere Versuche, verhaftete NTS-Mitglieder „umzudrehen“ und als KGB-Spione gegen die Widerstandsbewegung einzusetzen.

Eine spezielle Rolle spielte damals der Untergrundsender „Freies Rußland“: Dieser sendete Ende 1950 mit einer primitiven selbstgebastelten, nur 38 Watt starken Radiostation auf einem Lastwagen, deren Antennen vor den Sendungen noch an Bäumen angebracht werden mußten. Unter den Klängen der V. Symphonie Tschaikowskis ging ihr halbstündiges Programm auf die Wellenlängen der sowjetischen Rundfunksendungen für die Besatzungstruppen in der DDR. 1953 wurde ein besonderes Radiostudio eingerichtet und die Stärke des Senders vervielfacht. Im Juni 1958 zerstörte ein Sprengstoffanschlag das Studio bei Frankfurt am Main. Zwei Jahre später strahlte NTS auf zwei Kurzwellenbereichen täglich zehn Stunden aus. Ende 1963 kam es erneut zu einer „aktiven Maßnahme“ (Stasi-Jargon) seitens eines Sabotagetrupps der DDR und der UdSSR gegen den Sender und zwei Druckserien des NTS.

Im Zuge der Bonner Entspannungspolitik wurde dem NTS schließlich jegliche Tätigkeit verboten. Die Verbindungen zu DDR-Helfern und russischen Widerstandskreisen liefen primär über westeuropäische Anhänger. Einen Beweis dafür, daß NTS-Aktivitäten weiterhin für Unruhe sorgten, lieferte der Plan für die Zusammenarbeit zwischen KGB und Stasi für 1986 bis 1990 sowie eine Stasi-Anweisung von Ende 1988, die bei der „Bekämpfung operativ bedeutsamer ideologischer Zentren und Organisationen des Gegners“ auch gerade NTS nannten.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR beteiligten sich viele frühere NTS-Mitglieder am demokratischen Aufbau Rußlands. Inzwischen gibt es eine neue Generation dieser Untergrundbewegung, die nun die „gelenkte Demokratie“ Putins bekämpft. Geblieben ist das alte Ziel: Für ein freies Rußland!

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen