© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

Heuchelei als Erbe
„Der Weizsäcker-Komplex“: Das neue Buch von Thorsten Hinz ist soeben erschienen / Dritter und letzter Teil des Auszugs
Thorsten Hinz

Richard von Weizsäcker gibt sich stolz über das Erreichte und den eigenen Anteil daran: Die Spaltung Europas ist aufgehoben, Deutschland vereinigt und Berlin als deutsche Hauptstadt wieder eingesetzt. Schon als Kirchentagsfunktionär und Oppositionspolitiker hatte er mitgeholfen, Brücken nach Osten zu schlagen, als Regierender Bürgermeister von Berlin suchte er das Gespräch mit Erich Honecker, verband er den kleinen Pragmatismus mit dem großen Ziel. 1987 beim Staatsbesuch in Moskau scheute er sich nicht, den sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow offensiv auf die offene deutsche Frage anzusprechen. Während Regierung und Bundestag mit dem Berlin-Umzug noch zögerten, verlegte er demonstrativ den ersten Amtssitz des Bundespräsidenten aus der Bonner Villa Hammerschmidt ins Berliner Schloß Bellevue. Nach dem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt wählte er eine Villa in Berlin-Dahlem zu seinem Alterssitz.

Der Satz über die „klare Erinnerung“ rekurriert nochmals auf seine Rede vom 8. Mai 1985, was wohl heißt: Der Konsens, den sie zu stiften intendierte, bildet nach wie vor die Grundlage, auf der die gute Zukunft sich bauen soll, im Innern und nach außen. Gleichsam zur Bestätigung wird in einem weiteren, zeitnah erschienenen Weizsäcker-Buch der langjährige Außenminister Hans-Dietrich Genscher zitiert: „Wie wenig anderes habe Weizsäckers Rede geholfen, um Bedenken der Nachbarn gegen ein geeintes Deutschland zu überwinden, damit zähle sie zu den Faktoren, die den 9. November 1989 erst möglich machten.“

Der historisch unbelegbare Satz birgt einen Doppelsinn. Er besagt, daß den Deutschen die Aufhebung der Teilung gestattet wurde, nachdem und weil sie zu erkennen gegeben hatten, daß sie die Geschichtsversion der ehemaligen Kriegsgegner, auf die sich die völkerrechtliche Diskriminierung Deutschlands stützte, vollständig zu übernehmen bereit waren. Indem Weizsäcker die geschichtliche Begründung der Diskriminierung de facto akzeptierte und ihre Akzeptanz als moralische Pflicht proklamierte, schuf er die psychologische Voraussetzung dafür, daß sie sich über die formale Aufhebung im Zwei-plus-Vier-Vertrag (im Grunde ein Ersatzfriedensvertrag) hinaus fortsetzte: Gegen den Appell an die „besondere Verantwortung“, die sich aus ihrer „Geschichte“ (in Wahrheit: aus der oktroyierten Geschichtsversion) ergab, würden die Deutschen stets wehrlos und politisch dadurch neutralisiert sein, und das um so mehr, als Weizsäcker den Holocaust als den „archimedischen Punkt“ (Karl Heinz Bohrer) der deutschen Geschichte definierte.

Eine innere Befriedung des Landes konnte und hat sich daraus nicht ergeben. Das Verständnis von der deutschen Geschichte ist auf das einer quasireligiös eingefärbten Schuld-Geschichte geschrumpft, womit eine Entwicklung sich vollendet hat, die sich in Ansätzen bereits nach dem Ersten Weltkrieg abzeichnete. Von einem historischen Langzeitgedächtnis kann keine Rede mehr sein, weil die „deutsche Geschichte perspektiviert (wird) zur Vorgeschichte des Dritten Reiches“. Welche Zukunft kann aus dieser Erinnerung noch erwachsen?

Genschers Lob für Weizsäcker besagt einerseits, daß die Wiedervereinigung nur um den Preis der ideellen, moralischen und letztlich politischen Selbstaufgabe der deutschen Nation zu erlangen war, andererseits, daß die politische Klasse sich über Höhe und Bedeutung des Preises überhaupt nicht im klaren war. Ablesbar ist die Selbstaufgabe an den zahlreichen tautologischen Vergangenheitsdebatten seit der Wiedervereinigung, deren Ertrag darin besteht, das geschichtliche und politische Denken immer weiter zerstört beziehungsweise gar nicht erst zugelassen zu haben. Daher auch die Wehrlosigkeit gegen Forderungen nach immer neuen Restitutionen und Wiedergutmachungen bis hin zur Zumutung, „Auschwitz“ als bundesdeutschen Gründungsmythos anzuerkennen. Der Prozeß gewinnt eine immer größere Dynamik und holt – wie zuletzt in der Diskussion um das Buch „Das Amt“ – auch die Weizsäckers ein.

Richard von Weizsäcker, das bezeugen seine Bücher, Reden, Aufsätze und Interview-Äußerungen, steht den Konsequenzen der Entwicklung ablehnend, aber auch ratlos gegenüber. Als er ihr 1985 einen kräftigen Schub versetzte, mußte er dazu zeitgeschichtliche Fakten und Zusammenhänge verleugnen, die ihm gut bekannt waren und an die er sich erst im hohen Alter dezent wieder erinnerte.

Als 90jähriger erwähnte er die Erleichterung, mit der die deutschen Soldaten 1939, nachdem sie den Polnischen Korridor durchquert hatten, von den Ostpreußen empfangen wurden. Die Trennung ihrer Provinz vom Reich war beendet. In den Memoiren schreibt er, die deutschen Zeitungen seien vor Kriegsausbruch voll gewesen „von Berichten polnischer Provokationen und Übergriffen gegen die deutschen Minderheiten“, um dann einen halben Rückzieher zu machen: „Wer wußte, ob die Berichte stimmten? Geglaubt wurde das meiste.“ Zu Recht, wie er als Herausgeber der Erinnerungen seines Vaters sehr wohl weiß! (…)

Für einen Mann wie Richard von Weizsäcker, der tief in protestantisch-religiöser Tradition wurzelt, bedeutet Schuld die profane Form der Sünde. Er weiß, daß sein Vater Ernst von Weizsäcker Schuld auf sich geladen, gesündigt hat, denn die Abzeichnung der Deportationspapiere verstieß gegen die Gebote Gottes. Doch seine Schuld entsprang keiner Absicht, sondern der fehlenden Handlungsfreiheit, die eine Kluft zwischen Getanem und Gesolltem aufriß. Es handelt sich um eine objektive und mildere Form der Schuld.

Wo der Verstoß gegen das göttliche Gesetz hingegen in Wissen und in Freiheit erfolgt, spricht man von subjektiver Schuld. Sie ist die schwerere Form und betraf die nationalsozialistischen Befehlsgeber, die ihre Untaten in voller Absicht begingen. Die 8.-Mai-Rede und die späteren Äußerungen Richard von Weizsäckers lassen nicht genau erkennen, welcher Kategorie er jene Mehrheit der Deutschen zuordnet, die aus den unterschiedlichsten Gründen geschwiegen, weggeschaut oder tatsächlich nichts gewußt haben – ein historisches Anathema der bundesrepublikanischen Zivilreligion.

Der unduldsame Ton, den Weizsäcker anschlägt, deutet darauf hin, daß er ihnen moralische Inferiorität unterstellt, die sie gegen Schuldgefühle immunisierte und zur Passivität veranlaßte, was wiederum die Voraussetzung der bösen Tat bildete. Daraus ergibt sich zwar keine subjektive Schuld, weil ihr keine böse Absicht und kein in Freiheit gefaßter Entschluß zugrunde lag, aber doch mehr als bloß objektive Schuld, weil die passiven Deutschen sich – wie Weizsäcker aus seinem höchst eigenen Schulddilemma heraus insinuiert – dem Konflikt zwischen Getanem und Gesolltem nicht stellten, sondern ihn verdrängten.

Das konstituierte aus der Wahrnehmung Weizsäckers eine aktuelle Schuld, die sich als habituelle Schuld fortsetzt, wenn die falsche Gesinnung beibehalten wird, welche zur schweigenden Hinnahme der bösen Tat geführt und sie ermöglicht hat. Wird die falsche Gesinnung dauerhaft verdrängt und an die nächsten Generationen weitergegeben, wächst die konkrete Haftung des Kollektivs – die durch geeignete Maßnahmen wie Reparationen, Wiedergutmachung etc. irgendwann abgegolten ist – sich zu einer Erbschuld beziehungsweise Erbsünde aus. Weil die Verdrängung dem moralischen Bequemlichkeitsbedürfnis der durchschnittlichen Menschen entspricht, ist die Erbsünde stets latent.

Richard von Weizsäcker versuchte die objektive Schuld des Vaters, an der er litt, dadurch zu sühnen, daß er die vorgebliche Verdrängung und habituelle Schuld der Deutschen sowie die latente Erbsünde, in der sie stehen, zum einen energisch bekämpfte, zum andern ihre Latenz stets neu ins Bewußtsein hob: ein Prozeß, dem eine tautologische Unendlichkeit eingeschrieben ist! (…)

Die bestmögliche Deutung seines Wirkens, an die man glauben kann, ist diese: Er hat sich den Kräften, die – früh erkennbar – zur Annihilierung drängten, anverwandelt, um sie zu zähmen und zu steuern. Doch sie erwiesen sich als stärker und funktionalisierten ihn als ihre Marionette. Dafür gibt es objektive und subjektive Gründe.

Um in Positionen zu gelangen, in denen sich den aus- und inländischen Apologeten und Protagonisten der deutschen Selbstauflösung effektiv entgegenwirken ließ, mußte man zunächst ihre Überlegenheit anerkennen. Die umfaßte neben der praktischen Machtkompetenz auch den Legitimationsgrund, auf den sie sich bei ihrer Machtausübung beriefen: die nationalsozialistischen Verbrechen und die Sühne dafür!

Ein Machiavellist – oder schlicht ein politischer Realist – hätte zunächst einmal die reale Macht der siegreichen Akteure und ihre moralische Legitimation gedanklich voneinander getrennt und vorsichtig damit begonnen, hinter der moralischen, später auch zivilreligiösen Argumentation die politische Absicht, den induzierten Wahn, die Hybris und historischen Bedingtheiten aufzuzeigen und den Nationalsozialismus zu kontextualisieren. Dafür war Richard von Weizsäcker zu schwach. Die Schwäche ergab sich aus den tragischen Verstrickungen des Vaters beziehungsweise der Familie in nationalsozialistische Untaten, die ihn veranlaßten, das Politische auch als Familienangelegenheit aufzufassen und zu betreiben.

Die Sühne für den Vater, die Rehabilitierung des Familiennamens und die Selbstlegitimation zum politischen Zweck wurden für Richard von Weizsäcker ein und dasselbe. Wer Politik zur egoistischen Gewissensberuhigung betreibt – sei es ganz oder, wie hier, partiell –, muß diese Absicht notwendigerweise verbergen und ein Allgemeinwohl heucheln. Die Angst vor Entdeckung erzeugt weiteres Schuldgefühl, das zu verbergen neue Heuchelei erfordert, die in dem spiralförmig verlaufenden Prozeß schließlich die Kontrolle über das Ich übernimmt. Dem kontrollierten Ich gerät der strategische Zweck der machiavellistischen Heuchelei aus dem Blick und schließlich verloren, das Politische wird zur Funktion des Privaten, das sich endlich mit der Anerkennung durch die politischen und moralischen Vormächte begnügt, die ursprünglich zurückgedrängt werden sollten. Das schlechte Gewissen über den Betrug entlädt sich als Ressentiment gegen den Betrogenen, den eigenen Demos (…)

Der Weizsäcker-Komplex ist nur vordergründig historisch geworden. Mit Richard von Weizsäcker verschwindet zwar der letzte Vertreter der alten Oberschicht aus der Politik und dem öffentlichen Leben überhaupt. Die aufkommende Kritik an ihm aber stellt nicht seine Heuchelei in Frage, sondern die Refugien, die er sich gestattete. Nicht der abgeleitete, geheuchelte Elite-Anspruch wird kritisiert, sondern eine egalitäre Gesellschaft stellt den Elitegedanken generell in Frage.

Die Heuchelei, die Weizsäcker vorlebte: das Vortäuschen einer Haltung, Überzeugung, Identität beziehungsweise Teilidentität, die nicht dem Selbst entspringt, ist indes zum Kennzeichen eines besinnungslosen Landes geworden, das im erheuchelten sein authentisches Selbst erkennen will.

Thorsten Hinz: Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie. Edition JF, Berlin 2012, gebunden, 360 Seiten, 24,80 Euro

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