© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

„Hier ist unser Land, unser Zuhause“
Wahl in der Ukraine: Der Unmut ist groß, fraglich ist, ob die Opposition als Alternative angenommen wird
Lubomir Winnik

Der junge Journalist Roman ist vorsichtig. Er schaut sich um, bevor er flüstert: „Vorgestern bin ich zur Volksversammlung des ‘Komitees zur Verteidigung der ukrainischen Sprache’ gegangen. Und schon am nächsten Tag wurde ich zum Zeitungsinhaber, einem Mitglied der regierenden Partei der Regionen (PdR) vorgeladen. Das Gespräch war kurz und bündig: Wenn ich in der Redaktion ideologisch nicht spure, würde ich auf der Stelle rausfliegen!“

Als Journalist hat man es im west-ukrainischen Iwano-Frankowsk nicht leicht. Alle Mitarbeiter sind Freischaffende, keiner besitzt einen schriftlichen Vertrag. Der Lohn ist bescheiden und wird am Monatsende in einem Briefumschlag in die Hand gedrückt. Niemand ist somit versichert, geschützt von irgendeinem Kollektivvertrag oder einer Gewerkschaft. Wer nicht hohe Schmiergelder zu zahlen bereit ist, braucht sich gar nicht erst in das Wartezimmer eines Arztes zu setzen. Lebensmittel kosten durchweg mehr als in Deutschland.

Der Unmut der Opposition gegen die Regierung von Wiktor Janukowitsch ist groß. Entsprechend rief die wegen Amtsmißbrauchs verurteilte frühere Regierungschefin Julia Timoschenko aus der Haft medienwirksam per Videobotschaft zum Sturz der Regierung auf: „Wenn ihr jetzt nicht versteht, daß in der Ukraine die Kriminalität und die Mafia regieren, wird euch später niemand mehr schützen können“, erklärte die 51jährige.

Doch wenn am Sonntag gewählt wird, steht nicht Timoschenko im Mittelpunkt. Die Oppositionsführerin hat ihre Anhänger, doch insgesamt berührt deren Schicksal in der Ukraine, zumal im Landesosten, weit weniger als in der medialen Öffentlichkeit der EU-Staaten: Man hat andere Sorgen. Im Fokus des Wahlkampfes standen Arbeit, Einkommen und Gerechtigkeit. Und im nationalukrainisch gestimmten Westen zusätzlich die von der pro-russischen PdR iniitierte Einführung des Russischen als regionale Amtssprache, die als Vergewaltigung ukrainischer Identität empfunden wird. Entsprechend hoch kochte die Stimmung, als die prominente Journalistin Olga Babij am 23. August, dem Tag der Fahne, im Zentrum von Iwano-Frankowsk das Wort gegen die „Okkupanten“ erhob: „Wer ist unsere Regierung? Alles Fremde, sie sprechen Russisch. Wer ist unser Parlament? Zu 75 Prozent sind es auch Russen“, rief sie und unterstrich: „Hier ist unser Land, unser Zuhause!“

Mehr als 20 Jahre nach der staatlichen Unabhängigkeit ist das Land der großen Ebene am Rande Europas erneut in Unruhe, seine Bewohner geplagt vom Kampf um das tägliche Brot. Die Ikonen der Orangenen Revolution von 2004/05, der von einem Giftanschlag gezeichnete Wiktor Juschtschenko und die zu Straflager verurteilte Timoschenko, haben in Kabale und Haß-Liebe Ansehen und Macht verspielt und Hoffnungen enttäuscht.

Zwei große oppositionelle Formationen stehen der PdR als Konkurrenten um die Macht in Kiew gegenüber. Die Partei „Unsere Ukraine“ spielt nur noch unter „ferner liefen“ – als „zu weich“ für die ukrainischen Realitäten gilt deren Spitzenkandidat Juschtschenko. Der PdR, deren Ehrenvorsitzender Präsident Janukowitsch ist, werden nach letzten Vorwahlumfragen 23,3 Prozent der Stimmen vorhergesagt. Der kommunistische Koalitionspartner der „Regionalen“ rechnet mit einem Stimmenanteil von zehn Prozent.

Die Gegner Janukowitschs haben in der „Vereinigten Opposition“ ein Zweckbündnis geschmiedet, gebildet aus der Timoschenko-Partei „Vaterland“, der „Selbstverteidigung“ des gleichfalls inhaftierten Jurij Luzenko und der „Partei der Veränderungen“ von Arsenij Jazenjuk.

Die Kandidaten treten auf der Liste von „Vaterland“ an, deren Wahlwerbung indes vom Konterfei der schillernden „Gasprinzessin“ dominiert wird. Die Vorhersagen geben dem „Vaterland“ wenig mehr als 15 Prozent. Zehn Tage vor der Wahl haben die Nationalisten der „Freiheit“ zugunsten des „Vaterlands“ eine Koalitionsaussage getroffen.

Die andere große Kraft in der Opposition ist die Partei des amtierenden Boxweltmeisters Witalij Klitschko, die sich erstmals einem landesweiten Urnengang stellt. Der Einzug der westlich orientierten, sich im Kampf gegen Korruption profilierenden und von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung geförderten Gruppierung mit dem vielsagenden Namen „Udar“ („Schlag“) in die Werchowna Rada von Kiew ist den Prognosen zufolge ausgemachte Sache.

Der als Westler geltende Klitschko schlug indes die Einladung in das Bündnis der „Vereinigten Opposition“ aus und tritt zu den Wahlen im Alleingang an – ohne Koalitionsaussage. Somit wird das Nach-Wahl-Verhalten von „Schlag“ die spannende Frage dieser Wahl werden. Falls sich die Kräfteverhältnisse im Parlament nicht umsturzartig verändern – wonach es bisher nicht aussieht –, kann Klitschko den „Regionalen“ dennoch gefährlich werden, wenn er mit der Opposition zusammengeht.

Foto: Protest gegen Präsident Janukowitsch: Sprachenstreit, Machtmißbrauch und die fehlende Meinungsfreiheit treiben die Menschen auf die Straße

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