© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/12 26. Oktober 2012

Platzangst unter der Kuppel
Bundestag: Die Einigung der Fraktionen auf ein neues Wahlrecht wird die Zahl der Abgeordneten und Mitarbeiter deutlich anwachsen lassen
Paul Rosen

Immer mehr Politiker werden von immer weniger Bürgern gewählt und wollen noch weniger zu sagen haben. Auf diesen Punkt lassen sich die Bemühungen im Bundestag um ein anderes, diesmal verfassungsmäßiges Wahlrecht zusammenfassen. Die Einigung zwischen den Bundestagsfraktionen erfolgte, wie in Diäten- und Privilegienangelegenheiten üblich, auf den größten gemeinsamen Nenner. Nach Berechnungen im Bundestag wird das nächste Parlament aus vielleicht 670, eventuell sogar 751 Abgeordneten bestehen. Derzeit sind es 620.

Das Bundesverfassungsgericht hatte – erwartungsgemäß – das derzeitige Wahlrecht verworfen. Auslöser war ein Vorfall bei einer wegen des Todes eines Direktkandidaten notwendig gewordenen Nachwahl im Jahr 2005. Das komplizierte Wahlsystem mit Besonderheiten wie dem negativen Stimmengewicht oder Überhangmandate hätte bei der Nachwahl dazu geführt, daß zu viele Stimmen für die CDU zum Verlust eines Mandates geführt hätten. Das verstand zwar kein Mensch, aber viele CDU-Wähler zogen die richtigen Schlüsse und blieben zu Hause. Damit war das Mandat durch Nichtwahl gesichert. Daran nahm das Verfassungsgericht ebenso Anstoß wie an den Überhangmandaten. Davon gibt es derzeit 24 (alle bei CDU/CSU), die dadurch entstehen, daß die Union im Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht mehr Direktkandidaten durchbrachte als ihr nach dem (letztlich maßgeblichen) Verhältniswahlsystem zustanden. Etwa die Hälfte der Abgeordneten wird direkt gewählt, die andere rückt über von den Parteien aufgestellte Landeslisten ein, an denen die Wähler nichts verändern können.

Überhangmandate treten regelmäßig dann gehäuft auf, wenn eine Partei (so wie die Union zur Zeit) mit weitem Abstand vor den Wettbewerbern führt und dadurch jede Mange Direktwahlkreise holt, für die es – anders als etwa in Frankreich – keine Stichwahlen gibt. Es reicht die relative Mehrheit wie in den britischen Wahlkreisen. Die Begrenzung der Überhangmandate durch das Verfassungsgericht auf höchstens 15 umgingen die Fraktionen mit Wortklauberei. Flugs erfanden sie „Ausgleichsmandate“, was auf eine Vergrößerung der Parlaments hinausläuft. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann freute sich: „Damit werden Überhangmandate vollständig neutralisiert.“

Die Reaktionen waren verhalten. „Mehr Bundestag für das Volk“, titelte die Frankfurter Rundschau mit ironischem Unterton. Der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis wies in der Zeitung auf eine frühere Reduzierung der Zahl der Mandate hin, die jetzt wieder rückgängig gemacht werde. Protest kam von der Linken. Deren Abgeordnete Halina Wawzyniak sagte dem Tagesspiegel: „Mit der Linken wird es kein Wahlrecht geben, das zu einer Vergrößerung des Bundestages führt.“ Heftig protestierte auch der Bund der Steuerzahler: „Die Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, sich binnen vier Jahren auf ein verfassungskonformes Wahlrecht zu einigen, gipfelt jetzt in einem faulen Kompromißvorschlag, der unser Parlament zu Lastten der Steuerzahler unnötig aufbläht.“ Von 40 Millionen Euro Mehrkosten ist die Rede.

Die Financial Times machte sich Sorgen, daß die Bürger das Wahlrecht nicht mehr verstehen könnten. Dann sei „die Legitimation des Parlaments gefährdet. Und damit die Demokratie.“ Allerdings ist eine saubere verfassungsmäßige Lösung nur äußerst schwierig umzusetzen, weil die beiden Wahlrechtssysteme Mehrheits- und Verhältniswahl nicht problemlos verbunden werden können. Zur radikalen Lösung, entweder ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild oder ein reines Verhältniswahlrecht mit Parteilisten wie bei der Europawahl einzuführen, konnten sich die Fraktionen nicht durchringen.

Und es stellen sich Fragen zum Zustand des Parlaments. Viele der Volksvertreter beherrschen die freie Rede nicht mehr, in den überfüllten Ausschüssen regiert die Ahnungslosigkeit. Als TV-Journalisten nach der Höchstgrenze für die deutschen Rettungsschirm-Mittel fragten, wußten die meisten befragten Volksvertreter die Zahl nicht zu nennen, um die lange gerungen worden war. Das Nachwuchsproblem der etablierten Parteien ist nur zu offensichtlich, so daß sie zwar Claqueure, aber keine Qualifizierten entsenden können.

Der nächste Punkt: Mit der immer größer werdenden Zuständigkeit Brüsseler EU-Gremien, an deren demokratischer Legitimierung Zweifel bestehen, hat der Bundestag immer weniger zu bestimmen. Zur Umsetzung von EU-Verordnungen und Richtlinien braucht man keine 670 Abgeordneten. Dazu reichen ein paar Rechtsreferendare.

Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) will Brüssel mit einem Vetorecht gegen Haushaltsbeschlüsse ausstatten. Das kommt einer Entmachtung des Bundestages gleich, der allerdings mit großer Mehrheit bei EU-Verträgen und Rettungsschirm-Abstimmungen selbst schon soviel Entscheidungsrechte abgegeben hat, daß er heute nicht mehr mit dem Bundestag der siebziger Jahre zu vergleichen ist. Es drängt sich ein fataler Eindruck auf: Je größer er wird, desto weniger hat der Bundestag zu sagen.

Foto: Gut gefüllter Plenarsaal im Reichstag: Wenn es nach den Parteien geht, müssen die Abgeordneten bald enger zusammenrücken

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