© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Es ist immer noch Pulver im Faß
Auch hundert Jahre nach dem Ersten Balkankrieg sind viele ethnische Probleme in der Region virulent
Nikolaus Heinrich

Es war schon ein Paukenschlag, als die Staaten des Balkanbundes im Herbst 1912 im Ersten Balkankrieg das Osmanische Reich in Europa zum Einsturz brachten. Vier Zwerge gegen einen Riesen – so hätte noch wenige Jahre zuvor das Urteil gelautet. Und doch: In Schlachten wie denen bei Kirk Kilisse und Lüleburgaz schlugen die Anfänger ihre einstigen Meister. Der christliche Balkan hatte sich von der moslemischen Pforte befreit.

Es war ein langer Prozeß gewesen, der das vorbereitet hatte. Eigentlich hatte alles angefangen mit der erfolglosen Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1683, als offenbar wurde, daß die Heere der Osmanen durchaus zu schlagen waren. Die Pforte in Konstantinopel verlor in den nächsten Jahrhunderten die Initiative auf dem Balkan. Im 19. Jahrhundert entstanden nach oft langen Aufständen alte Staaten neu, zuerst Griechenland, dann all die anderen – Serbien, Bulgarien, Rumänien, Montenegro.

Meist verlief die Staatswerdung über Zwischenstadien, so über die Errichtung von der Türkei tributpflichtige Fürstentümer am Rande des osmanischen Machtbereichs, die nur begrenzte Souveränität für sich reklamieren konnten. So bildete der Erste Balkankrieg letztlich nur den Endpunkt einer Entwicklung, die schon lange vorher begonnen hatte. Denn was lag näher, als im Zeitalter des Nationalstaats schließlich alle Angehörigen des jeweils eigenen Volkes den zunächst entstandenen Rumpfstaaten anzuschließen, wie es eben im Erste Balkankrieg auch geschah? Freilich muß das, was sich auf den ersten Blick als normaler Weg hin zum modernen Nationalstaat darstellt, mit den wenig idealen Voraussetzungen dafür in Beziehung gebracht werden. Das sind vor allem drei:

Erstens die Tatsache, daß nur wenige Gebiete über ethnisch homogene Bevölkerungen verfügten. Schon bald beschritten die neuen Staaten den Weg der Vertreibung, um dem nationalstaatlichen Ziel der Einheit von Staatsvolk und Staat näherzukommen. Betroffen waren vor allem die, die als Anhänger der besiegten Türkei galten – moslemischen Minderheiten, die zumeist schon seit Jahrhunderten in den jeweiligen Räumen etabliert waren. Zweitens konnte keine der neuen Balkanmächte eine auch nur halbwegs eigenständige Politik betreiben. Zu stark waren Interessen und Einflüsse der großen Mitspieler im europäischen Mächtekonzert, namentlich Rußlands, Österreich-Ungarns, Großbritanniens und Italiens. Erst das Vorgehen der Großmächte hatte überhaupt dafür gesorgt, daß die innerbalkanischen Freiheitsbewegungen sich erfolgreich gegen ihre osmanischen Herren hatten erheben können.

Das aber war höchstens am Rande geschehen, um den christlichen Balkanvölkern die Freiheit zu bringen. Vielmehr diente das Engagement der Großmächte dazu, eigene Positionen zu verbessern, etwa durch den Gewinn von Mittelmeerhäfen (Rußland), die Beschränkung von Konkurrenten (Österreich-Ungarn und Großbritannien gegen Rußland) oder die Schaffung eines Kolonialreichs zur Überwindung innerer Probleme (Italien). Und drittens stellte sich alsbald heraus, daß die Gründungsmythen der neuen Staaten ebensowenig eine stabile Zukunft verhießen wie die prekären innenpolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen. Serbien, Bulgarien und dahinter etwas zurückstehend Griechenland beanspruchten allesamt eine auf ferne historische Erfahrungen zurückgreifende Führungsrolle auf dem Balkan – was die Suche nach einem für alle Seiten tragbaren Kompromiß zur Quadratur des Kreises werden ließ.

Nicht umsonst entlud sich die Unzufriedenheit über die Verteilung der Beute schon kurz nach dem Vertrag von London im Zweiten Balkankrieg (Frühjahr 1913). War zuvor das Osmanische Reich das Opfer einer großen Koalition seiner Gegner gewesen, mußte nun Bulgarien in einem Vielfrontenkrieg gegen seine vormaligen Verbündeten und die Türkei kämpfen – mit ähnlichem Erfolg, denn innerhalb kürzester Zeit hatte sich Bulgarien geschlagen zu geben und einen Großteil seiner Gewinne aus dem ersten Balkankrieg an die Sieger abzutreten. Demgemäß erfolgte auch die Positionierung der Balkanstaaten im Ersten Weltkrieg, mit dem ab 1914 eine dritte Runde im Ringen um die Vorherrschaft auf dem Balkan eingeläutet wurde: Das um Aufstieg kämpfende Bulgarien trat nahezu folgerichtig auf seiten der sich gegen Serbien stellenden Mittelmächte in den Krieg ein, ebenso die auf dem Balkan, aber auch an nahezu allen anderen Grenzen unter Druck stehende Türkei. Letztere bezahlte dafür mit dem Verlust ihrer Großmachtstellung, Bulgarien blieb ein südosteuropäischer Staat von allenfalls lokaler Bedeutung.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, den Pariser Vorortverträgen und den Einigungen, die die Türkei mit ihren westlichen Nachbarn in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre erzielte, schien die Ordnung des Balkans einstweilen abgeschlossen. Der Zweite Weltkrieg mit der kurzzeitigen territorialen Vergrößerung Bulgariens auf Kosten Griechenlands und Serbiens blieb eine alsbald wieder revidierte Episode. Der folgende Kalte Krieg, kommunistische Gleichschaltung im Sinne Moskaus und das titoistische, auf Machterhalt bedachte Regime Jugoslawiens garantierten einen äußeren Frieden, von dem manche Beobachter im Westen Europas glaubten, er würde ewig dauern.

Gleichwohl waren die alten Konkurrenzen und Probleme nicht beseitigt, sondern allenfalls oberflächlich übertüncht worden. Geopolitische Realitäten leben üblicherweise lange, ebenso geschichtlich begründete Selbst- und Fremdbilder von Völkern und der durch sie bestimmten Staatswesen. So konnte es höchstens für einen ahistorisch vorgehenden Betrachter verwunderlich sein, daß nach dem Zusammenbruch der Kommunismen Südosteuropas längst überwunden geglaubte Frontstellungen wieder aufbrachen. Nach dem Verlust der alles überwölbenden und zugleich alles in ein Zwangssystem pressenden Vorherrschaft Moskaus und der jugoslawischen Kommunisten wurden die Bezugspunkte der Balkanstaaten neu – und zugleich althergebracht – definiert: Der Nationalstaat feierte eine bis dahin kaum für möglich gehaltene Wiederauferstehung.

Im Grunde ähnelte nunmehr die Interessenlage der einzelnen Staaten und Völker der von 1912/13: Haves standen gegen Have-nots – oder anders formuliert, Gewinner der Geschichte gegen vermeintliche Verlierer. Wie so oft in der Geschichte versuchten die Gewinner, ihre Beute zu bewahren: die Ser-bien als dominante Nation Jugoslawiens gegen die Sezessionsbestrebungen aller anderen Ethnien des Vielvölkerstaates, die Griechen im Kampf gegen eine als bedrohlich für den eigenen Bestand empfundene Staatlichkeit Mazedoniens. Angesichts der Machtverhältnisse kam es nur in Jugoslawien zu heißen Kriegen – doch das bedeutete nicht, daß die anderen Staaten ihre Interessen vergessen hätten. Denn Interessen können vielgestaltig sein. Im Falle Bulgariens, Griechenlands und Albaniens siegte vorerst das Staatsziel, die Armut mit Hilfe der Europäischen Union zu überwinden und internationales sicherheitspolitisches Mitspracherecht durch die Nato zu bekommen.

Wie hartnäckig man gleichwohl innerhalb dieser Organisationen eigene Politik verfolgen kann, mag man am Beispiel Griechenlands erkennen, das nach wie vor dem Weg Mazedoniens in Richtung auf eine gefestigte internationale Stellung Steine in den Weg zu legen in der Lage ist. Selbst die auswärtigen großen Akteure behielten alte, längst vergessene Allianzen bei: Rußland hielt seine Hand schützend über das serbische Jugoslawien, Frankreich ebenso. Die Türkei stand für eine Unterstützung der Moslems, und Italien baute ein enges Verhältnis zu Albanien wieder auf.

Was kommt in Zukunft? Was passiert, wenn der Wohlstand versprechende Sog der Europäischen Union nachlassen sollte? Brechen dann die nun über hundert Jahre alten Konflikte wieder auf? Werden die Staaten des Balkans versuchen, erneut mit kriegerischen Mitteln Grenzen zu verschieben und homogene Nationalstaaten zu schaffen? Es spricht einiges dafür, daß das nicht der Fall sein wird. Die korrupten und zum Teil in mafiöse Machenschaften verstrickten Eliten der Region dürften kein Interesse daran haben, ihre Stellung durch politische Abenteuer aufs Spiel zu setzen. Hinzu kommt die Alterung der Bevölkerungen – Alte neigen weniger zur aggressiven Verfolgung politischer Ziele als Junge.

Man wird sich also friedlich einigen, vielleicht nicht zur Zufriedenheit aller, aber doch so, daß alle damit leben können. Alle? Einige Ausnahmen von der eben skizzierten Prognose beanspruchen auch in Zukunft ein erhöhtes sicherheitspolitisches Augenmerk für den Balkan: Albanien, das Kosovo und überhaupt alle albanisch besiedelten Gebiete der Region verzeichnen ein weit überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum mit jungen, vielleicht auch begeisterungsfähigen Menschen. Und auch die Türkei als naher Anrainer ist in einem Findungsprozeß begriffen, der in Richtung Islam und regionale Ordnungsmacht geht. Vielleicht sind die kommenden Konflikte auf dem Balkan also die gleichen, die uns tagtäglich in den Nachrichten begleiten: die zwischen vitaleren, islamische geprägten Völkern und einem vorsichtig zurückgehenden, christlich geprägten Europa.

Foto: Albanischstämmige Kinder demonstrieren 1999 bei Pristina für einen unabhängigen Kosovo-Staat; tanzende bulgarische Soldaten im Ersten Balkankrieg 1912: Unterschiedlich starker Bevölkerungswachstum, nationale und religiöse Spannungen haben sich bis heute erhalten

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