© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Wünschen hilft nicht
Moralischer Durchhalte-Appell: Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union ist eine Provokation
Thorsten Hinz

In diesem Jahr beträgt die mit dem Nobelpreis verbundene Dotation ein Fünftel weniger als in den vergangenen Jahren. Die Finanzkrise hat auch die Alfred-Nobel-Stiftung getroffen. Zyniker könnten die Frage aufwerfen, ob etwa Goldman Sachs die Finanzierung zumindest des Friedensnobelpreises übernommen hat und das Preiskomitee sich erkenntlich gezeigt hat, indem es sich für die Europäische Union entschied.

Denn was ist die EU heute? Den Kurs gibt der mit allen Wassern gewaschene EZB-Präsident Mario Draghi vor, assistiert von Ministerpräsident Mario Monti, zwei früheren Goldman-Sachs-Funktionären aus Italien, welche die Deutschen als größte Financiers nach allen Regeln der Kunst austricksen. Nun erklärt das Nobelkomitee in Richtung der zahlenden Nordländer: Es lohnt sich auf jeden Fall, an diesem Verein festzuhalten und an ihn zu glauben! Es lohnt sich, die Inflationierung der Ersparnisse, der Rentenansprüche und die Gefangenschaft in der Steuerschraube hinzunehmen. Die internationale Hochfinanz freut’s!

Unumstritten waren die Preisvergaben nie. Gerade die Verleihung des Friedensnobelpreises war stets von politischen Absichten und Rücksichtnahmen sowie einer westlich-universalistischen Perspektive geleitet. Sie konnte überzeugen, wenn sie das Engagement von einzelnen oder kleinen, unabhängigen Organisationen würdigte, die sich den übermächtigen Verhältnissen entgegenstellten. Spontan fallen einem Andrej Sacharow oder Nelson Mandela ein. Auch die Verleihung an aktive Politiker war nicht per se falsch. 1926 erhielten der deutsche Außenminister Gustav Stresemann und sein französischer Amtskollege Aristide Briand den Preis für die Verständigungspolitik, an der beide sich aufrieben und schließlich scheiterten. 1971 hieß der Preisträger Willy Brandt, dessen Ostpolitik – wie immer man sie beurteilt – großes Engagement und persönlichen Mut erforderte. Auch Michail Gorbatschow wurde zu Recht ausgezeichnet. Der ehemalige Kommunist war einen langen Weg der Erkenntnis gegangen, an dessen Ende er die friedliche Auflösung des Ostblocks duldete.

Jahrzehntelang stand die Verleihung des Friedensnobelpreises im Zeichen des Kalten Krieges. Der ist vorbei, seine letzten Ausläufer sind verebbt. Die neue Leitlinie trat erstmals 2009 bei der Verleihung an US-Präsident Barack Obama klar hervor. Obama war damals gerade knapp ein Jahr im Amt und hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt, etwas Preiswürdiges zustande zu bringen. Doch eine international angelegte Kampagne hatte ihn zur Projektionsfläche der Eine-Welt-Ideologie und zum Multi-Colour-Messias stilisiert, zum völker- und religionenübergreifenden Führer und Friedensfürsten, der ein neues globales Zeitalter eröffnete. „Der gute Führer“ titelte ganz unironisch Die Zeit und pries ihn als Wiedergänger von Franklin D. Roosevelt, der gemeinsam mit Churchill und Stalin den Beelzebub Hitler in die Knie gezwungen hatte.

Mit reichlich gutem Willen konnte man darin einen Hoffnungs- und Vertrauensvorschuß erblicken. Der aber ist durch Drohneneinsätze, durch den Weiterbetrieb von Guantanamo und diverse andere Entscheidungen aufgebraucht. Das Nobelkomitee hätte seinen Fehlgriff korrigieren können, indem es den Preis zur Hälfte an Wikileaks-Gründer Julian Assange verleiht, der das von Barack Obama repräsentierte Imperium mit seinen Enthüllungen herausgefordert hat wie kein anderer Zeitgenosse und aus Rache und zur Abschreckung nun international kriminalisiert wird. Die andere Hälfte hätte an den wichtigsten Assange-Informanten, den 24jährigen US-Soldaten Bradley E. Manning gehen können, der unter grausamen Bedingungen inhaftiert ist und den Rest seines Lebens wohl im Gefängnis verbringen wird.

Mit der Entscheidung für die Europäische Union hat das norwegische Komitee alle Zweifel an seiner Unabhängigkeit und Zurechnungsfähigkeit bestätigt. In der Begründung heißt es: „Die EU erlebt derzeit ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten und beachtliche soziale Unruhen. Das Norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.“

Die Unruhen und Schwierigkeiten haben einen genau identifizierbaren Grund: die fatale Währungsunion, die zusammengezwungen hat, was nicht zusammengehört. Mehr noch: Wäre die EU tatsächlich das, was das Nobelpreiskomitee in ihrer idealisierten Beschreibung behauptet – eine „Bruderschaft zwischen den Nationen“ im Sinne Alfred Nobels –, dann wäre es zum Euro und damit zu den aktuellen Konflikten gar nicht erst gekommen. Da es keine ökonomischen und politischen Argumente mehr gibt, muß der moralische Durchhalte-Appell an seine Stelle treten. An ihm richten sich auch die überforderten, ratlosen, verängstigten deutschen Politiker auf, die die Preisverleihung unisono begrüßen.

Ob Demokratie und Menschenrechte tatsächlich die Grundlage für die EU bilden, ist noch die Frage. Zumindest sind sie disponibel. Das zeigt der Fortbestand der Benesch-Dekrete, die Mord, Folter, Raub und Vertreibung legalisieren. Davon abgesehen, fühlen die Bürger in Europa – nicht nur in Deutschland – sehr wohl, daß die EU sich zum Moloch, zum Instrument politischer, sozialer, gesellschaftlicher und kultureller Entfremdung entwickelt hat. Es ist eine Provokation, wenn das Nobelpreiskomitee seine Begründung als Forderungskatalog formuliert, in dem es die Aufnahme von Kroatien, Montenegro, Serbien sowie der Türkei verlangt. Dort habe „die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft Demokratie und Menschenrechte“ gefördert. – Wer bloß führte dem Komitee dabei die Feder?

Ausgerechnet in dem Moment, da die inneren Widersprüche der EU offen ausbrechen und sie sich zu einem Krisenherd entwickelt, wird sie für preiswürdig erklärt. Außerhalb Europas wird man darüber lächeln, falls man die Entscheidung überhaupt zur Kenntnis nimmt. Der Nobelpreis gehört einer Zeit an, die Vergangenheit ist. Vergeßt ihn!

Foto: Friedensnobelpreis für die EU: „…soll einen Fonds bilden, dessen Zinsen jährlich als Preis an diejenigen ausgeteilt werden sollen, die im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben.“ (aus dem Testament von Alfred Nobel vom 27. November 1895)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen