© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/12 19. Oktober 2012

Gerald Hüther. Der populäre Hirnforscher gibt dem Publikum, wonach es verlangt.
Der Prophet
Heino Bosselmann

Schule, wie wir sie kennen, abschaffen! Schließlich stecke in jedem Kind ein Genie! Mit solchen, wohl vor allem bei Eltern mißratener Sprößlinge populären Behauptungen tingelt der Hirnforscher Gerald Hüther derzeit durch die Feuilletons. Unlängst wurde er gar durch seine Einladung als einziger Premierengast in der neuen ZDF-Sendung des Bestseller-Philosophen Richard David Precht geadelt.

Hüthers erfolgreiches Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“ (2011) macht es offenbar unmöglich, an ihm vorbeizukommen. Für Kritiker klingt der Titel zwar verdächtig wie ein Werbespruch von Scientology, dennoch wird der „Krawall-Neurologe“ (Spiegel) landauf, landab eingeladen und eifrig interviewt.

Tatsächlich hat der einundsechzigjährige Thüringer wissenschaftlich durchaus etwas vorzuweisen, immerhin ist er Professor für Neurobiologie und Leiter der Zentralstelle für neurologische Präventionsforschung an der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Und seine Lehre, daß die Verhältnisse viele unserer geistigen und kreativen Potentiale verkümmern lassen, ist nicht verkehrt. Hüther hat mit vielem recht und trifft auf das Kopfnicken des gesunden Menschenverstandes. Das ist wohl das Geheimnis seines Erfolges: Er ist begeisterter Naturalist, sieht sich als „Brückenbauer zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher wie individueller Lebenspraxis“. Das heißt, er stellt akademisches Wissen als Lebenshilfe bereit, und seine Neurowissenschaft betreibt Gerald Hüther als Heilslehre.

Damit trifft er den Nerv einer Gesellschaft, die es gewöhnt ist, in erster Linie die Verhältnisse für ihre Probleme verantwortlich zu machen. Hüther schürt nicht nur die Hoffnung, daß alles möglich sei, er entschuldigt auch, was dem einzelnen nicht möglich ist: Es ist nicht der eigene Fehler, wir sind Opfer der Umstände! So schüttet er über seinem Publikum das Füllhorn säkularer Verheißungen aus – Polemik von kindergerechter Anschaulichkeit: schön handlich, schön positiv, vor allem sehr viel in der ersten Person: Ein „Aufklärer“ im Ornat des eigenen Ichs. Das alles folgt nicht zuletzt einer besonderen Art moderner Medienkultur: Was Sie schon immer über jahrtausendealte Schwierigkeiten der Menschheit wissen wollten und was ich dazu endlich erlösend für uns alle herausfand. – Der Mann ist ein moderner Prediger.

Auch mit seinem neuen Buch „Jedes Kind ist hochbegabt“ verheißt Hüther, daß wir an sich „in einer wunderbaren Zeit leben“, gewissermaßen in der besten aller Welten psychologisch-neurologischer Machbarkeit. Mit dem didaktischen Gestus eines Peter Lustig und der emotionalen Eindringlichkeit von „Fernsehpfarrer“ Fliege wirbt er dafür, Kinder zu begeistern, statt etwa schnöde über Sachzusammenhänge zu unterrichten. Mit seinem Lesepublikum ist ihm das bereits gelungen.

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