© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Alles wird gut
Denker aus Asien, Energie aus dem Wasserglas und Bodenschätze vom Mond: Der US-Physiker Michio Kaku entwirft Szenarien, wie die Menschheit im Jahr 2100 leben wird.
Markus Brandstetter

Unglaublich, was sich in Toilette, Bad und Kleiderschrank zukünftig für Dinge abspielen werden. Kloschüssel und Waschbecken werden schon bald DNA-Chips enthalten, die feststellen, ob in unserem Körper Krebskolonien wachsen. Durch einfaches Anhauchen eines Spiegels wird sich die DNA für ein mutiertes Protein namens p53 nachweisen lassen, das an fünfzig Prozent aller Krebsarten beteiligt ist.

In Wald und Flur und auf einsamen Landstraßen wird es für den Reisenden nach einem lebensbedrohlichen Unfall geradezu traumhaft werden. Sensoren in Auto und Kleidung werden dann automatisch aktiv, geben via Internet die Position des Verletzten durch, rufen einen Krankenwagen und laden seine medizinische Vorgeschichte auf den Krankenhauscomputer. Das wird schon im Jahr 2030 möglich sein. Richtig spannend wird es aber dann um das Jahr 2100. Da können die Menschen laut Michiu Kaku dann Gedanken lesen, Computer mit dem Gehirn steuern und natürlich auf dem Mars leben. Wir haben dann auch Wetter und Klima fest im Griff, es wird eine Weltregierung geben und die globale Sinnstiftung wird vom Profisport geleistet. Die Energie kommt aus dem Wasserglas, die Bodenschätze vom Mond und praktisch alle Doktoranden der Physik aus Indien, China oder Japan, denn da wohnen die klügsten Köpfe überhaupt (der Autor ist gebürtiger Japaner). Obwohl wir dann mit Außerirdischen in praktisch täglichem Kontakt stehen werden, gibt es auch beruhigende Nachrichten: Die meisten Menschen werden nach wie vor auf der Erde leben, ein interstellarer Massenexodus zu erdähnlichen Planeten wäre schlicht zu teuer.

Diese erstaunlichen Prophezeiungen stammen nicht von einem durchgeknallten Science-Fiction-Autor, sondern von Michio Kaku, einem reputierlichen US-Physiker, der an den amerikanischen Eliteuniversitäten Harvard und Berkeley studiert, wichtige Beiträge zur modernen Physik (Stringtheorie) geliefert hat und heute Professor in New York ist (JF 10/10). So richtig professoral kommt Kaku allerdings seit Jahren schon nicht mehr daher. In zig Filmen, in denen Astronomie und Physik gemeinverständlich dargeboten werden, tritt Kaku mit wallendem weißen Haar und leuchtenden Augen auf, um von der Zukunft zu erzählen, so wie er sie sieht. Dabei kommt ihm sein unbestreitbares Talent zugute, hochkomplizierte Sachverhalte wie Einsteins Theorien, die Flugbahnen von Kometen oder die Anzahl der Transistoren, die auf einen Siliziumchip passen, klar, einfach und humorvoll zu erklären.

Allerdings sollte auch ein populärwissenschaftliches Werk die Trennungslinie zwischen Fakten und Eindrücken nicht überschreiten. In seinem nun auf deutsch vorliegenden Buch über die Physik der Zukunft scheint sich der Autor jedoch streckenweise gar nicht mehr darum zu kümmern, was Tatsache und was Hypothese ist. In acht Kapiteln will er die nächsten hundert Jahre von praktisch allem vorhersagen. Er spannt dabei einen weiten Bogen, der von Computern und künstlicher Intelligenz über Medizin, Nanotechnologie und Energie bis zu Raumfahrt und Wohlstand reicht. Solange der Stoff noch etwas mit Physik zu tun hat, weiß Kaku, wovon er redet: Es erscheint einleuchtend (wenn auch nicht neu), daß sich die Rechnerleistung der Computer zukünftig nicht mehr alle 18 Monate verdoppeln wird (Mooresches Gesetz), sondern nur noch alle paar Jahre und irgendwann ganz stagniert. Es mag auch sein, daß man bald Bilder, Musik und Computerprogramme auf Kontaktlinsen herunterladen kann – aber die Autos werden auch in hundert Jahren nicht fliegen können, der Begriff „Autounfall“ wird nicht aus unserem Wortschatz verschwinden und der seit fünfzig Jahren regelmäßig angekündigte Durchbruch in der Kernfusion wird vermutlich auch noch länger auf sich warten lassen. Roboter können zwar Autos lackieren, Pizzateig kneten und auf Großmeisterebene Schach spielen, aber – und das muß auch Kaku eingestehen – mit wahrer Intelligenz hat das nicht viel zu tun.

Kaku hat für dieses Buch angeblich mehr als 300 führende Wissenschaftler, die meisten davon Nobelpreisträger, interviewt. Der Leser kann getrost sagen, daß er dies dem Buch nicht anmerkt. Wie so oft wäre auch hier weniger mehr gewesen. Unfreiwillig komisch wirkt Kakus Vorliebe, andauernd zu erzählen, mit welchem Nobelpreisträger er wann und wo beim Essen und auf welcher Konferenz er der Hauptredner war. Über die Zukunft läßt sich trefflich spekulieren. Autoren von Thomas Morus über Jules Verne und H. G. Wells haben das getan, aber es sollte intelligent, mit einem Auge für das Machbare und umfassend informiert geschehen. Davon ist Kaku ein gutes Stück entfernt.

 

Michio Kaku: Die Physik der Zukunft. Unser Leben in 100 Jahren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, gebunden, 608 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

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