© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Akkorde sind niemals antisemitisch
Richard Wagner hat Verehrung verdient. Der gefeierte Dirigent Christian Thielemann beschreibt seine Liebe zum Bayreuther Komponisten, dessen Werk auch Molltöne nicht trüben können.
Markus Brandstätter

Manchmal scheinen Natur und Erbanlagen eine Generation zu überspringen. Der Dirigent Christian Thielemann ist solch ein Fall. Der ist der bedeutendste lebende Wagner-Dirigent. Aber Thielemann dirigiert Wagner, Beethoven und Bruckner nicht so, wie es heute üblich ist: unterkühlt, analytisch, sezierend – sondern mit sattem Klang und großer Geste. Thielemann ist der Antipode der ventillosen Naturtrompeten, der vibratolosen Streicher, die so klingen, wie Wassersuppen schmecken, und der prestissimo durchgepeitschten Allegro-Sätze. Thielemann läßt das Orchester aufspielen wie vor fünfzig Jahren. Der Berliner dirigiert aber auch nicht so wie von ihm verehrte Vorbilder, wie beispielsweise Otmar Suitner, Herbert von Karajan oder Wolfgang Sawallisch. Nein, Thielemann erinnert viel mehr an große Klangmagier wie Furtwängler, Eugene Ormandy, Stokowski sogar.

Nun hat Thielemann zusammen mit der Journalistin Christine Lemke-Matwey ein Buch über Richard Wagner und seine Beziehung zu ihm geschrieben. Los geht es aber erst einmal mit Thielemann selbst. Da ist also der Frühbegabte aus gutem Hause, der schon mit fünf Klavier und Geige spielt, vom Vater das absolute Gehör und von beiden Eltern Disziplin, die Liebe zur Musik und ein Abonnement für die Berliner Philharmaniker mitbekommen hat. Christian Thielemann sagt von sich selber, er gehöre einer Generation an, die „gelernt habe, sich selbst und alles Deutsche zu hassen, natürlich auch die deutsche Musik und allen voran Richard Wagner“. Thielemann hat das nie interessiert. Er bemerkt, daß die gesamte Wagner-Literatur, von Adorno bis Zelinsky, einem bei der richtigen Dynamik im „Tristan“-Vorspiel nichts nütze und man einen Quartsextakkord weder „antisemitisch noch sozialistisch, noch kapitalistisch“ spielen könne.

Für Christian Thielemann steht bei der Musik nicht die Ideologie, sondern das Handwerk im Vordergrund, und ein großer Handwerker ist er von Anfang an gewesen. Nach dem Konzertexamen im Klavierfach, Stationen als Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin, Assistent bei Karajan und in Bayreuth wird der 29jährige Generalmusikdirektor in Nürnberg. In dieser Zeit hat Thielemann zwar nicht Dirigieren gelernt, weil man das sowieso „nicht lernen“ könne, sich aber „ein dickes Repertoire angefressen“, trainiert, mit Chören zu atmen und Operetten vom Blatt zu dirigieren. Wie Karajan hat Thielemann die Ochsentour als Kapellmeister an zweiten und dritten Häusern absolviert, und bis heute hält er diese für die beste Vorbereitung auf höhere Weihen.

Im zweiten Teil seines Wagner-Buches bietet Thielemann ein Potpourri teils scharfer Vignetten zum Planeten Wagner. Aus Altbekanntem sticht ein kluger Essay zu Wagners Antisemitismus, den Thielemann mit dem typischen Sozialneid des Unterprivilegierten erklärt, heraus. Keineswegs ein Gemeinplatz ist die Aussage, daß Wagner „der Totengräber der Mendelssohn-Rezeption bis tief ins 20. Jahrhundert hinein gewesen ist“. Von Hans von Bülow bis zu Hans Joachim Moser reicht eine unselige Tradition, Mendelssohn als kraftlosen Schöpfer von Streichquartetten für höhere Töchter abzutun.

Zu Recht stellt Thielemann fest, daß die Orchester seit siebzig Jahren immer lauter werden, weil die Darm- durch Stahlseiten ersetzt, die Blasinstrumente technisch verbessert und der Kammerton a1 von einstmals 440 Hertz auf nunmehr 443 Hertz (fast um einen Viertelton) erhöht wurde. All das verlangt den Wagner-Sängern Höchstleistungen ab, die auf die Stimme gehen. Von diesen Einsichten aus der Praxis hätte man sich mehr in diesem privaten Kulturleitfaden gewünscht.

Fast die Hälfte des Buches besteht aus Einführungen in Wagners Musikdramen, und zwar auch in die frühen Werke wie „Die Feen“ oder „Das Liebesverbot“, von denen kaum ein Opernführer sonst etwas weiß. Zu jeder Oper erfährt der Leser etwas zu Entstehung, Besetzung, Handlung, Musik. Auch eine Übersicht zu den gängigsten Schallplattenaufnahmen gibt es. Man wird ruhig sagen dürfen: All das hat man woanders mindestens genausogut und manchmal auch besser gelesen. Auch den Schallplatten-Tips wird man nicht immer folgen wollen. Unter den zahlreichen Aufnahmen des „Rings“ werden sich viele Musikhörer sich weder für den heiß empfohlenen, klanglich jedoch unzulänglichen Furtwängler-„Ring“ aus dem Jahr 1953 (in Mono) noch für den routiniert herunterdirigierten Karajan- „Ring“ (1966–70), sondern vielmehr für Soltis klassische Aufnahme aus den frühen Sechzigern entscheiden. Aber das sind geringe Mängel an diesem ansonsten sehr lesenswerten Buch, das jeder Musikfreund freudig begrüßen wird.

 

Christian Thielemann: Mein Leben mit Wagner. Verlag C.H. Beck, München 2012, gebunden, 320 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro

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