© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Deutschlands beste Feder
Ein teutonischer Edmund Burke: Zur Wiederentdeckung des konservativen Staatsdenkers Friedrich von Gentz
Martin Göttsche

Der 1764 in Breslau als Sohn eines hohen preußischen Beamten geborene, 1832 nahe Wien verstorbene Friedrich von Gentz war eine der wenigen wirklich wegweisenden Ideengeber, mit denen die Geschichte des deutschen Konservatismus anhebt. Seit 1802 in österreichischen Diensten stehend, haftete dem Nachruhm Gentz’ jedoch der schlechte Ruf des Fürsten Metternich, dessen „restaurativer“ Politik des monarchischen Legitimismus und des absolutistischen Polizeiregiments an. Daher schrumpfte, ungeachtet mehrerer zwischen 1836 und 1913 erschienener Werk-, Brief- und Nachlaßeditionen, trotz einiger Biographien und vieler essayistischer Porträts, der langjährige engste Mitarbeiter des Außenministers und Staatskanzlers Metternich unaufhaltsam auf Fußnotengröße. Als Golo Mann 1936 im Exil seine Gentz-Forschungen begann, da habe er „in jeder Buchhandlung Londons“ die Werke Edmund Burkes gefunden, während er sich die Texte des „größten politischen Schriftstellers in deutscher Sprache“ mühsam aus Zeitschriften, Einzelausgaben und Auswahlbänden zusammenklauben mußte.

Es dauerte nach der Veröffentlichung dieses traurigen Befundes, 1947 im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Gentz-Biographie Golo Manns, nochmals ein halbes Jahrhundert, bevor Günther Kronenbitter endlich in 24 Teilbänden die „Gesammelten Schriften“ (1997–2004) auf einem Regalbrett verfügbar machte. Diese frische Präsenz der weitverzweigten politischen Publizistik des an Kant geschulten Staatstheoretikers dürfte den Aufklärungsexperten Harro Zimmermann animiert haben, auch die biographische Wiederentdeckung jenes Mannes zu wagen, den er leider wenig glücklich zum „Erfinder der Realpolitik“ ausruft.

Im Untertitel heißt Golo Manns Gentz-Portrait die „Geschichte eines europäischen Staatsmannes“.  Der stets devot zeitgeistkonforme S. Fischer Verlag machte daraus bei der Neuausgabe 1995,  mit Blick auf Maastricht: „Vordenker Europas“. Obwohl politisch eher links gestrickt, widerstand Zimmermann der Versuchung, dem verlegerischen Fingerzeig in Richtung Brüssel zu folgen und Gentz mit der Brechstange zum geistigen Wegbereiter der Apparatschiks des europäischen Superstaates zu konfirmieren. Denn Textkenntnis wappnet ihn gegen solche Anachronismen.

Wer dennoch Lust auf Aktualisierung hat, findet bei Gentz ohnehin nur Munition für eine gegenläufige Argumentation, nämlich ein Zitatenarsenal gegen den bundesdeutschen EU-Wahn. Wenn der preußische Kriegsrat Gentz 1793 gegen die „politischen Kindermährchen“ poltert, die zu „Grundflächen großer Staatsoperationen“ werden, wer denkt da nicht an die Währungsunion? Die Schuldenkrise läßt grüßen, wenn Gentz gegen den Assignatenschwindel, also die hemmungslose Gelddruckerei der zum „Bankrottieren“ neigenden Franzosen wettert. Eine Mixtur aus Thilo Sarrazin und Hans-Dietrich Sander meint man in Gentz’ Wüten gegen die vor Napoleon kuschende preußischen Neutralitätsapostel unter Friedrich Wilhelm III. zu erkennen, die er als Doktrinäre der „Politik der Selbstaufgabe“ geißelt.  

Zimmermann dürfte also dieses immense Potential gegenläufiger Deutungen realistisch eingeschätzt haben, und soweit er die europäische Karte spielt, tritt der Legitimist, der für die Heilige Allianz, die Pentarchie der europäischen Großmächte engagierte „forcierte Meinungsbildner“ Gentz bei ihm mit triftigeren Gründen eher als Vorläufer General de Gaulles auf, nämlich als Anwalt eines „Europas der Vaterländer“.

Abgesehen von solcher historisch adäquaten Einstufung dieses sprachmächtigen Lobredners des Gleichgewichtssystems, der sich gern „Sekretär Europas“ nennen ließ, liegt Zimmermanns Verdienst in der Rekonstruktion der Prinzipien konservativer Gesellschaftsentwürfe, die sich bei Gentz, der anfangs gegen die 1789 mit der Französischen Revolution ausgebrochene „Influenza des Demokratiegedankens“ nicht immun war, erst unter dem Einfluß von Edmund Burke, dessen „Betrachtungen über die Französische Revolution“ er 1793 übersetzte, recht sukzessive herausbilden. Im Mittelpunkt steht dabei ein zuerst durch seinen Breslauer Lehrer Christian Garve vermittelter Pragmatismus. Diese „politische Klugheitslehre“ bestreitet der „reinen Theorie“ jegliche Zuständigkeit für Ordnungsfragen des Gemeinwesens. Sie wendet sich nach 1789 bei Gentz vor allem gegen jeden Versuch „mentaler oder materieller Gleichschaltung“, die die von ihm propagierte „rechtsförmige Staatsbürgergesellschaft“ mit Untergang bedroht.

Leider ufern Zimmermanns Analysen der auf „Wirklichkeitsbesinnung“ fixierten politischen Philosophie des Konservatismus zum Volkshochschulkurs vergleichende Theoriegeschichte aus, der Gentz mit Kant, empirisches Staatshandeln mit wirklichkeitsfremdem Universalismus, anthropologischen Pessimismus mit blindem Utopismus, konkret lebbare Bürgerordnung mit den abstrakten Chimären der Menschenrechtsdeklarationen konfrontiert. Mit dieser hölzernen, nicht enden wollenden Begriffsklopferei fällt Zimmermann leider am weitesten hinter die elegante, al fresco malende Prosa Golo Manns zurück, der den gegen Kant, Fichte und die terroristischen französischen „Luftschiffer“ gerichteten Reformkonservatismus des „ersten Publizisten Preußens“ mit wenigen kräftigen Strichen konturiert.

Überhaupt klebt Zimmermann mitunter hilflos an den Vorgaben der Mannschen Interpretationen. Fast wörtlich kehren daher etwa bei ihm dessen Sondierungen zu Gentz’ Antijudaismus wieder. Der bis zu seinem Wechsel nach Wien emsig in den Salons reicher Berliner Jüdinnen verkehrende Staatsbeamte sei „nicht ernsthaft Antisemit“ gewesen, konstatiert Mann, stand gleichwohl den „berlinisierten Juden“, die selber keine Talente hervorbrachten, dafür jedoch den „literarischen Betrieb“ organisierten, kritisch bis ablehnend gegenüber. Zimmermann geht nur einen kleinen Schritt weiter, indem er Gentz im „Mainstream des preußischen Antijudaismus“ verortet, aber ansonsten sachlich dessen Ansichten über die Juden referiert „als die geborenen Repräsentanten des Atheismus, des Jakobinismus und der Aufklärerei“.

Eigenständigkeit beweist Zimmermann primär in den Passagen, die dem Charakter Gentz’ gelten. Der Wortführer des Frühkonservatismus ist als Privatmann noch entschiedener Pragmatiker denn als Theoretiker. Für seine anti-französischen Pamphlete kassiert er englisches Geld, in Wien verwickelt er sich in dubiose Finanztransaktionen mit dem Haus Rothschild, und zeitlebens muß es sich der notorische Schuldenmacher und generöse Schwerenöter gefallen lassen, als käuflicher Reaktionär und amoralisches Subjekt zu gelten. Zimmermann verweilt ausführlich bei Gentz’ skandalösem Lebenswandel. Nicht um in den Psychologismus abzugleiten, sondern vielmehr ist ihm der schillernde Charakter Ausdruck der intellektuellen Beweglichkeit, die Gentz gerade in der bleiernen Zeit nach den Karlsbader Beschlüssen zu neuen politischen Häutungen befähigte.

Mit der Schilderung der letzten Volten des alten Hofrats, der sich von Metternichs starrer Restaurationspolitik entfernt und der über die Synthese zwischen Monarchismus und modernisierter Elitenherrschaft reflektiert, glücken Zimmermann die anziehendsten, am meisten für eine Wiederentdeckung der „besten Feder Deutschlands“ werbenden Partien seiner Biographie.

 

Harro Zimmermann: Friedrich Gentz. Die Erfindung der Realpolitik. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, gebunden, 344 Seiten, 39,90 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen