© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

Papst der Dichtkunst
Lichtgestalt aus Dresden: Durs Grünbein ist der bedeutendste deutsche Lyriker der Gegenwart
Felix Dirsch

Kann es noch Revolutionen in einem so althergebrachten literarischen Genre wie der Lyrik geben? Das ist möglich, und Durs Grünbein ist der lebende Beweis dafür. Er zeigt, daß das anspruchsvolle, formvollendete Schreiben von Gedichten heute noch möglich ist, und völlig zu Recht gilt Grünbein als „Papst der Dichtkunst“. So hochtrabend sich dieser von Literaturwissenschaftlern verliehene Titel auch anhören mag: die Zahl der Ehrungen, darunter der renommierte Georg-Büchner- und der Friedrich-Hölderlin-Preis, rechtfertigt ihn allemal.

Aus den diversen Gedichtsammlungen des am 9. Oktober 1962 in Dresden geborenen Grünbein ragt „Grauzone morgens“ heraus. Der Band kann im Suhrkamp-Verlag bereits vor dem Mauerfall erscheinen. Der Schützling von Heiner Müller beschreibt in idiosynkratischer Sprache einen merkwürdigen Zwischenraum. Die Menschen auf dem Weg zur Arbeit, diskrete Zeugen des „Smogalarms“ im grau-trüben ostdeutschen Alltag – eine Anspielung auf die Umweltbelastungen, die öffentlich wenig thematisiert werden –, leben noch in der DDR, die aber bereits Züge jener Leiche annimmt, von der berichtet wird. Eine Person, an deren Gesicht mit dem „Ausdruck der Müdigkeit“ man sich noch erinnert, wird „nach Wochen tot aufgefunden“. Ihre Identität ist nur noch in Umrissen zu erkennen. Kaum jemand hat den Niedergang des mitteldeutschen Staates so sensibel nachvollzogen wie Grünbein.

Wird „Grauzone morgens“ überwiegend wohlwollend aufgenommen, verhält es sich mit dem Gedichtband „Porzellan“ (2005) anders. Bereits der Untertitel „Poem vom Untergang meiner Stadt“ läßt den Grund dafür ahnen. Hätte es noch einer Bestätigung für Arnulf Barings These bedurft, der Vorwurf der „Unfähigkeit zu trauern“ träfe mittlerweile nur noch auf die Erinnerung an eigene deutsche Opfer während des Zweiten Weltkrieges zu – die Reaktionen auf Grünbeins Trauer zum 60. Jahrestag der Vernichtung seiner Heimatstadt hätten sie erbracht. Einige Rezensenten entblöden sich nicht einmal, sogar das Possessivpronomen im Untertitel unpassend zu finden.

Die vielleicht schönsten Verse des einfühlsamen Nachgeborenen lauten: „Wirrer Traum, der zwanghaft wiederkehrt: ich bin dabei, / Anonym ein stummer Zeuge in der Bombennacht. / Was, wenn du das warst, der Engel in der Haut aus Stein. / Arme ausgebreitet, die Figur dort auf dem Kirchendach? / Unten sinkt die Stadt in Schutt, nur er bleibt unversehrt, / Von der Glut gehärtet, Asche auf den kalten Lippen. / Diese Ohnmacht: niemand hört dich, in ihn eingesperrt. / Sind das Menschen, prasselnd da wie Eßkastanien / Zwischen Straßenbahnen, ausgeglüht bis auf Metallgerippe? / Wirrer Traum: nicht dringt heraus aus diesem Cranium.“

Sein distanziertes Verhältnis zur „kommoden Diktatur“ Erich Honeckers mag heute fast schon als Selbstverständlichkeit betrachtet werden. Allzu nachhaltiges Insistieren darauf wäre fast so penetrant wie der mit Getöse vorgetragene „nachholende Widerstand“ 1968ff. gegen das NS-Regime. Beachtlicher schon an seiner Frankfurter Vorlesung 2009 ist mancher vorsichtig-positive Hinweis auf konservative Vorläufer wie Stefan George, Thomas S. Eliot, Ezra Pound und Rudolf Borchardt, aber auch sein Verdikt gegen lange Zeit modische progressive Endlos-Manifeste mit Rezepten zur Weltverbesserung.

Was macht Grünbein im Literaturbetrieb so einzigartig und sein umfangreiches Œuvre so lesenswert? Er ist der Prototyp des umfassend gebildeten Autors. Die Weite seines geistigen Horizonts verblüfft. Insbesondere viele Anspielungen auf antike Stoffe, Hinweise auf weltliterarische Zusammenhänge, vor allem aber seine Verarbeitung neuerer Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Forschung wie der Biologie oder der Chemie setzen neue Maßstäbe. Das alte Gefecht der Neuzeit, ob den „Anciens“ oder den „Modernes“ Priorität zukomme, ist für den Liebhaber der Alten schon entschieden.

Aus dem „Zentrum der Kreativität“ (Grünbein), dem Altertum und seinen Vorgaben, rühren die Muster auch für heutiges Dichten her. Weltliteratur ist für den äußerst belesenen Schriftsteller bleibender „Völkerrechtsmaßstab“. Immer wieder finden sich Versatzstücke von Goethe, Vergil und anderen; Arkadien ist häufig präsent und soll für alle Völker gelten.

Die „Berliner Aufzeichnungen“ des frischgebackenen Vaters, unter dem Titel „Das erste Jahr“ 2001 publiziert, werden teilweise hymnenartig begrüßt. Marcel Reich-Ranicki lobt in höchsten Tönen den Gang durch große Städte wie auch die Zwiesprache mit Gedanken und Werken großer geistiger Ahnen, von denen Baudelaire, Mandelstam, Seneca oder Cicero zu erwähnen sind.

Eindrucksvoll ist Grünbeins Fähigkeit, wissenschaftliche Forschung literarisch darzustellen, besonders lesenswert seine Beschreibung der Entzifferung des menschlichen DNA-Codes sowie seine Andeutungen der Folgen. Der Mensch im Zeitalter des neurophysiologischen Determinismus und der Konditionierung: dieses Thema fasziniert den Wissensliteraten.

Der Brückenschlag von den „Erziehungsprogrammen Platons über die Pflanzschulen des Humanismus“ und „Stalins Demiurgenarbeit am Neuen Menschen“ bis zu den biotechnischen Optimierungsprojekten gehört zum Interessantesten, was im letzten Jahrzehnt poetisch dargestellt worden ist. So erstaunt es keineswegs, daß die Verbindung von Dichtung und Naturwissenschaft bei Grünbein Anstöße für etliche Studien aus der germanistischen Sekundärliteratur liefert. Exemplarisch sei die Dissertation von Anna Alissa Ertel „Körper, Gehirn, Gene“ genannt.

Grünbein hat schon einige Schaffensphasen erlebt: eine Periode als avantgardistischer Prenzlauer Berg-Dichter, eine als Wendezeit-Autor, eine als Vertreter einer sprach- und subjektkritischen Transit-Poesie. Bemerkenswert ist das hohe Maß an Aufmerksamkeit, die er in Feuilletons und Literaturwissenschaft erfährt. Die Frankfurter Rundschau charakterisierte ihn als den „Besten“ seiner Literatengeneration, und Gustav Seibt urteilte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schon im März 1994 über die Bedeutung Grünbeins: „Seit den Tagen des jungen Enzensberger, ja, vielleicht seit dem ersten Auftreten Hugo von Hofmannsthals hat es in der deutschsprachigen Lyrik einen solchen alle Interessierten hinreißenden Götterliebling nicht mehr gegeben.“

Helmut Schmitz’ verheißungsvolles Verdikt vom „Großes noch erwarten lassenden Grünbein“ aus dem Jahre 1995 hat seine Berechtigung längst unter Beweis gestellt. Dabei ist noch lange nicht aller Tage Abe nd. So ist zu vermuten, daß der Primus weiterhin auf Starallüren verzichtet und auch in Zukunft vom Ruhm verwöhnt sein wird.

Foto: Durs Grünbein im Haus der Berliner Festspiele (8. September 2012): Zwiesprache mit Gedanken und Werken großer geistiger Ahnen

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