© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

„Keine Entwarnung“
Reportage: Weil Karlsruhe die Politik zwingt, Asylanten mehr Sozialhilfe zu zahlen, steigt deren Zahl
Ronald Gläser

Für Farid Amini endete die Odyssee am 1. Oktober. Um 19.16 Uhr setzte Ursula Bergmann vom Kinder- und Jugenddienst der Hansestadt Hamburg den Stempel ihrer Behörde unter ein Aufnahmeformular und schickte den 16jährigen zur Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZEA).

Farid, vorheriger Aufenthaltsort unbekannt, ist damit ein Vorgang der deutschen Bürokratie geworden, ein Antragsteller. Vermutlich folgt jetzt ein monatelanges Asylverfahren, und am Ende wird der in Mazar-e Sharif geborene Afghane in Deutschland Aufenthaltsrecht bekommen. So, wie es fast immer ist.

Im Moment steht Farid noch im Erdgeschoß der ZEA. Er und ein Nigerianer warten auf den nächsten Termin bei einem Sachbearbeiter. „Der macht eine Zigarettenpause – wenn er zurückkommt, will er sich um uns kümmern“, berichten die zwei. Es warten noch viele andere Antragsteller an diesem Tag darauf, daß jemand sich um sie kümmert. Mehr als sonst.

Hamburg ist keine Ausnahme. Überall in Deutschland werden steigende Zugangszahlen von Asylbewerbern gemeldet. Hannover etwa plant die Anmietung eines Hotels, um den monatlichen Zuwachs von etwa 40 Personen verkraften zu können. Die hessische ZEA in Gießen registrierte alleine im September 680 Neuzugänge. Und das bayerische  Sammellager in Zirndorf platzt so aus allen Nähten, daß das Rote Kreuz Zelte aufstellen mußte.

Mit einem Grundsatzurteil zum Asylbewerberleistungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht im Juli eine Kettenreaktion ausgelöst: Asylbewerber erhalten nun genausoviel Geld wie Sozialhilfeempfänger. Das hat sich herumgesprochen.

Die Zahl der Asylbewerber steigt sowieso schon seit Jahren. Das hat nur zum Teil mit der Lage in Syrien zu tun. Das Bürgerkriegsland steht bei den Herkunftsländern nur an dritter Stelle. Länder wie Pakistan und der Iran, aus denen ebenfalls viele Asylbewerber nach Hamburg kommen, sind keine Kriegsgebiete. „Die regelmäßigen Prognosen des Bundesinnenministeriums und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge geben bezüglich der stetig steigenden Zugangszahlen keine Entwarnung“, heißt es in einem Papier der Hamburger Verwaltung.

Jetzt hat der deutsche Staat zusätzliche Anreize geschaffen – und kommt mit den Folgen der daraus resultierenden Zuwanderungswelle kaum zurecht. In Hamburg klagen Beschäftigte der zuständigen Behörden über Mehrarbeit. „Wahrscheinlich haben diese Richter sich überhaupt keine Gedanken gemacht, was das Urteil bedeutet“, sagt ein Angestellter, der mit diesen Dingen täglich betraut ist. Hamburg hat eine Sammelunterkunft für etwa 70 Personen im Ortsteil Großborstel und eine Außenstelle für 200 Personen in Nostorf in Mecklenburg-Vorpommern. Beide sind voll. Rund 44 Millionen Euro pro Jahr gibt Hamburg für Asylbewerber aus.

In der Hamburger ZEA, einem Sechziger-Jahre-Zweckbau, gehen Menschen vieler Nationalitäten ein und aus. Kinder spielen. Familien kehren mit vollen Lidl-Tüten zurück. Auch Deutsche kommen und gehen: Anwälte oder Sozialarbeiter. Die Pförtner sitzen entspannt im Büro, rauchen oder sind mit sich selbst beschäftigt. Eingangskontrollen gibt es nicht.

In manchen Fluren riecht es, als würde Haschisch geraucht. Es ist nicht schwer, mit Bewohnern des Heims in Kontakt zu treten. Mahmoud zum Beispiel, der mit nackten Füßen über den Linoleumboden schlurft. Der Palästinenser ist seit vier Monaten in Deutschland und wohnt mit Mustafa, einem Ägypter, in einem Zimmer. Die beiden laden sofort in ihre Stube ein, die sie sich mit einem dritten Asylbewerber teilen. Der Raum ist klein. Der Boden ist voll mit Müll, Essensresten und leeren Zigarettenschachteln. Plötzlich stellt sich heraus, daß die beiden Männer bereits bestens integriert sind: In ihrem Bett liegt Christin, eine junge Deutsche, die sich mit ihnen angefreundet hat.

„Die Unterbringung ist nicht gut“, schimpfen die beiden Araber. Zwei Männer teilen sich ein Doppelbett. Weil die ZEA übervoll ist, wurden Zimmer zusammengelegt. Mustafa, der seit zehn Monaten in Deutschland lebt, wurde am Dienstag morgen vor einer Woche jäh geweckt. Hausangestellte seien erschienen und hätten ihn angewiesen, den Raum zu verlassen. Später bekam er ein neues Zimmer zugewiesen und mußte sich seine Habseligkeiten wie Kleindung, Schuhe und sein Handy in mehreren Räumen zusammensuchen. „Mein Fernseher ist immer noch im Keller“, schimpft er. Die Räumlichkeiten mögen beengt sein, aber es ist nicht alles schlecht: „Früher haben wir 220 Euro bekommen. Jetzt sind es 346 Euro pro Monat“, sagt Mustafa freudestrahlend.

Viele der „Alteingesessenen“ in dem Heim wie Mahmoud und Mustafa sind sauer auf den Zuwachs von Sinti und Roma. Bei denen hat sich das BVG-Urteil am schnellsten herumgesprochen. Eine Ghanaerin mit einem Baby auf dem Arm und ein Mann aus Sierra Leone informieren über die „Neuen“, derenwegen die Einrichtung aus allen Nähten zu platzen droht: Es seien Großfamilien aus Osteuropa, die „immer gleich mit 30 Kindern“ kämen. Als eine Iranerin dazukommt und etwas über die Verhältnisse in der ZEA berichten will, erscheinen zwei große Wachleute. „So, jetzt ist hier Schluß. Wer sind Sie und wo ist Ihre Genehmigung?“ Welche Genehmigung? „Na, daß Sie hier einfach reinkommen und mit den Leuten sprechen. Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder einfach Fragen stellen darf?“ Die Wachleute sprechen ein Hausverbot aus.

Die Hamburger Behörden sind nicht an einer Berichterstattung über die Zustände in ihren Asylantenheimen interessiert. Unter der Hand ist hingegen auch von höheren Stellen zu erfahren, daß es „problematische Engpässe“ gebe und daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wahrscheinlich die Ursache dafür sei.

Die rot-grün regierten Bundesländer Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein wollen sich der Sache auf ihre Weise annehmen, indem sie die letzten Einschränkungen für Asylbewerber abschaffen und das Asylbewerberleistungsgesetz einstampfen. Die Integrationsministerin von Rheinland-Pfalz, Irene Alt, meint, erst dadurch würde die „unerträgliche Diskriminierung der Flüchtlinge endlich aufhören“.

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