© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/12 12. Oktober 2012

„Das hätte ich mir nie träumen lassen“
Vor einem Jahr nahm EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark seinen Hut – aus „persönlichen Gründen“, wie es hieß. Doch tatsächlich konnte er den Kurs der Euro-Rettung nicht mehr mittragen: die Geschichte einer Enttäuschung.
Moritz Schwarz

Herr Professor Stark, wären Sie heute noch Chefvolkswirt der EZB, was würden Sie tun?

Stark: Wenn ich nicht damals schon  ausgeschieden wäre – inzwischen wäre ich es bestimmt.

Warum?

Stark: Weil die Währungsunion sich weiter verändert hat und das Krisenmanagement immer teurer wird.

Seinerzeit haben Sie zur Ursache Ihres Rückzugs in der Öffentlichkeit geschwiegen, gaben nur „persönliche Gründe“ an. Was war es genau, das Sie damals nicht mehr mitverantworten konnten?

Stark: Ich habe zunächst persönliche Gründe genannt, die aber im dienstlichen Bereich lagen. Der eigentliche Grund ist, daß die Politik einen grundsätzlich falschen Weg eingeschlagen hat.

Nämlich?

Stark: Nämlich zu versuchen, die Krise mit Hilfe großer Finanzpakete zu lösen und daß die EZB über ihren Auftrag hinausgegangen ist. Stichworte Rettungsschirme und Anleihekäufe.

Wieso ist das der falsche Weg?

Stark: Weil man damit das in Maastricht 1991 entworfene Konzept einer Wirtschafts- und Währungsunion als Stabilitätsunion auf den Kopf gestellt hat. Für die Zentralbank kommt hinzu, daß sie eine Strukturkrise, wie wir sie erleben, gar nicht lösen kann. Mit ihren Mitteln kann sie lediglich Zeit kaufen.

Also rettet die Euro-Rettung den Euro gar nicht?

Stark: Es geht doch nicht um den Euro. Es geht um Staaten, die gerettet werden. Und wir haben es mit realwirtschaftlichen Problemen zu tun, die nicht mit immer mehr Liquidität gelöst werden können. Man bewirkt so allenfalls kurzfristige Linderung der Probleme, über längere Frist aber das Gegenteil: Es bauen sich neue Ungleichgewichtspotentiale auf.

Hätten Sie dann nicht auf Ihrem Posten bleiben müssen und versuchen, dem Rad in die Speichen zu greifen?

Stark: Ich sah mich in einer ausweglosen Minderheitenposition. Meine von der Mehrheit abweichende Meinung konnte ich unseren Regeln folgend nicht laut hinausposaunen.

Die EZB möchte mit einer Stimme sprechen.

Stark: Ja, natürlich, einerseits. Aber andererseits müssen alle Argumente auf den Tisch und die Öffentlichkeit soll dies nachvollziehen können. Ich finde es gut, daß jetzt eine Debatte über mehr Transparenz der EZB-Ratsentscheidungen angestoßen wurde. Ich hatte mich im Frühjahr erstmals dazu geäußert. Dies ist im derzeitigen Umfeld enorm wichtig. Denn die EZB handelt de facto außerhalb ihres Mandats. Da muß man als Verantwortlicher doch zumindest die Möglichkeit haben, diese Entwicklung öffentlich zu diskutieren. Jedenfalls, die Entscheidung, die ich Ende des vergangenen Jahres getroffen habe, sollte Signalwirkung an die Politik und an die EZB haben.

Die Politik hat dieses Signal ignoriert.

Stark: Ich überschätze mich nicht.

Sind Sie enttäuscht?

Stark: Sagen wir, man lernt immer noch dazu.

Soll heißen?

Stark: Daß es in Europa einen kollektiven Rechtsbruch gibt, aber keinen Kläger. Das ist für mich bis heute unfaßbar!

Was ist Ihre Konsequenz?

Stark: Ich sage voraus, daß damit auch weiterhin jeder Beitrag der EZB zur Lösung der Krise früher oder später verpuffen wird oder die EZB ihre Unabhängigkeit verliert. Man wiederholt den Fehler, der von Beginn an gemacht wurde. Denn es war eigentlich immer schon klar, daß der Euro nur dann positiv auf Wachstum und Beschäftigung wirken würde, wenn er durch Strukturreformen in den Mitgliedsländern flankiert wird. Das aber ist unterblieben.

Warum?

Stark: Weil die vertraglichen Regeln und damit der Vertrag selbst nicht angewandt wurde. Schließlich hatte man gemäß Unionsvertrag sowohl die Verfahren als auch die Instrumente dazu, dies einzufordern. Das aber ist nie geschehen.

Ja, aber warum?

Stark: Ich denke, wir sind einer Art Europa-Euphorie erlegen. Manche Politiker in den heutigen Problemländern  dachten: Wir schaffen den Euro und der Euro löst unsere Probleme. Das konnte nicht aufgehen.

Moment, Sie selbst gehören zu den Vätern des Euro.

Stark: Ich bin einer derjenigen, der an der Entstehung der Währungsunion beteiligt war, das stimmt. Und ich räume ein, auch ich war der Meinung, der Euro würde zu einem Katalysator für Reformen. Aber das Gegenteil war der Fall: Der Euro hat eher wie ein Schutzwall gegenüber Reformen  gewirkt. Allerdings war für mich auch klar, daß nach dem Start des Euro die eigentliche harte Arbeit für viele Länder erst beginnt.

Genau diesen Schutzwall-Effekt haben konservative Kritiker vorausgesagt, denn diese wissen: Hat er es bequem, ändert der Mensch sein Verhalten nicht. Wozu auch?

Stark: Nein. Die neue Politikergeneration nach Einführung des Euro hat nicht verstanden, was die Wirtschafts- und Währungsunion von ihr verlangte. Die Bedingungen für ein reibungsloses Funktionieren des Euro waren nach den vertraglichen Verpflichtungen gegeben. Aber wenn Fehlentwicklungen festgestellt wurden, wurden entsprechende Länder nie aufgefordert, ihren Verpflichtungen nachzukommen – zumindest gab es keine Überwachung. Warum nicht? Weil potentielle Sünder über Sünder urteilten und weil die Ressourcen für anderes, etwa für den EU-Erweiterungsprozeß, eingesetzt wurden. Und so haben sich hinter dem Schutzwall des Euro neue Ungleichgewichte aufgebaut.

Demzufolge ist der Euro selbst mit schuld an der Krise.

Stark: Nein, schuld ist der Umgang der Politik mit dem Euro. Denken Sie nur an das Schicksal der Haushaltsregeln des Stabilitätspakts im Jahr 2003. Die Regeln wurden von Deutschland und Frankreich außer Kraft gesetzt und zerstört. Man sollte nicht immer nur auf andere zeigen.

Aber der starke Euro hat diese schludrigen Zustände doch überhaupt erst ermöglicht?

Stark: Es war vielmehr diese Einstellung: „Haushaltsregeln dürfen politischen Gestaltungswillen nicht einschränken!“ oder „Gut, wir haben ein Leistungsbilanzdefizit. Aber wo ist das Problem, solange es finanziert wird?“

Also doch der Euro – er hat doch zu diesem Verhalten verführt.

Stark: Nein, nicht der Euro. Politiker haben sich falsch verhalten, und Regierungen haben sich nicht an die neuen Bedingungen einer gemeinsamen Währung angepaßt. Dazu sind Prinzipien und Regeln für die Wirtschafts- und Haushaltspolitik sowie für die Währungsunion festgelegt worden. Diese Regeln sind weder vor noch während der Krise eingehalten worden. Aktuell gilt dies erstens für die „No-Bailout-Klausel“ – also keiner haftet für die Schulden eines anderen – und zweitens für das Verbot monetärer Finanzierung – also Staatshaushalte werden auf keinen Fall durch Gelddrucken finanziert. Doch genau diese Regeln sollen in der Krise plötzlich nicht mehr gelten. Ja, mehr noch, dieser Regelbruch wurde gar als wichtiger historischer Durchbruch empfunden!

Das kann Sie nicht wirklich erstaunen, auch das hatten Kritiker vorausgesagt.

Stark: Vieles der damaligen Kritik richtete sich gegen das Projekt an sich. Ich bleibe dabei: Das Maastricht-Konzept war trotz mancher Lücken ein gutes Konzept. Es wurde nur nicht vollkommen umgesetzt! Hinzu kommt: Wir sind mit einer zu großen Zahl von Ländern gestartet. Das hat sich noch verschärft, indem dann zu rasch weitere Länder, die den Ansprüchen nicht gerecht wurden, dazukamen. Länder, die sich zwar formal qualifiziert haben mochten, die aber keinen Beweis dafür erbracht hatten, den Herausforderungen des Euro auch längerfristig gewachsen zu sein. Fazit: Wir sind mit zu vielen gestartet, haben zu schnell erweitert und haben die Zeit, die wir hatten, um die Union krisenfest zu machen, nicht genutzt.

Pardon, das klingt so überrascht. Tatsächlich aber hat die Fehlentwicklung, wie Sie selbst sagen, von Beginn an eingesetzt.

Stark: Moment, trotz all der Fehler, die gemacht wurden, hat die EZB bis 2009 eine durchaus verantwortungsbewußte Geldpolitik betrieben. Und auch die ersten Maßnahmen nach Beginn der Krise waren völlig gerechtfertigt. Erst mit der Eskalation zur Staatsschuldenkrise hat sich die EZB übernommen, indem sie den Regierungen signalisierte: „Wir werden euch da notfalls heraushelfen!“ Das wurde von der Politik bereitwillig angenommen. Nun aber kann sich die EZB nicht mehr aus dieser Rolle befreien.

Der Deutschlandfunk spricht davon, daß damit der Kulturkampf zwischen „italienischer und deutscher Finanzkultur“ entschieden, Deutschland besiegt sei, „Europa nun italienisiert“ werde.

Stark: Mit Maastricht sollte eine Stabilitätskultur in Europa begründet werden. Heute steht eine Mehrheit von Krisenländern einer Minderheit von stabilitätsorientierten Staaten gegenüber.

Es ist doch kaum nachvollziehbar, daß das alles aus Versehen passiert ist, daß dahinter nur Naivität gesteckt haben soll?

Stark: Es hat nichts mit Naivität zu tun, wenn nicht antizipiert wurde, daß das Euro-Gebiet zu rasch über die ursprüngliche institutionelle Konstruktion hinauswachsen würde. Aber es hat daneben durchaus auch die Phase einer identitätsstiftenden Wirkung der gemeinsamen Währung von 1998 bis 2008 gegeben. Das war eine Chance, die wir nur leider nicht genutzt haben. Die Krise selbst hat dann wiederum nationalstaatliches Denken begünstigt.

Was hat die Bundesregierung in dieser Lage getan, um das deutsche Interesse – das einer Stabilitätspolitik – zu verteidigen?

Stark: Für meine Begriffe war die Unterstützung der Bundesregierung für die Positionen, die von Bundesbankpräsident Jens Weidmann vertreten wurden, nicht sehr überzeugend. Nicht daß er auf diese angewiesen wäre, aber ganz sicher hat diese fehlende Unterstützung den deutschen Stabilitätsgedanken weiter geschwächt.

Hatten Sie vor Ihrem Rückzug Unterstützung von der Bundesregierung genossen?

Stark: Es kann nicht um aktive Unterstützung aus der Politik gehen, denn eine Institution, die unabhängig sein will, darf sich nicht von solcher abhängig machen. Aber: Daß stabilitätspolitische Positionen dann von der deutschen Regierung auch noch durch zweideutige Äußerungen unterminiert werden, das enttäuscht schon – damals wie heute.

Im Grunde sagen Sie doch, daß die Bundesregierung die deutschen Interessen nicht mehr vertritt.

Stark: Es geht um beides: europäische und deutsche Interessen. Sie müssen sich dann bitte auch  fragen, was genau sind denn hier eigentlich die Interessen der Politik? Das ist ja gar nicht so einfach zu sagen. Denn hätte die EZB nicht so, sondern anders entschieden, wäre der Druck auf die Schuldnerländer nicht gemindert worden. Folge: Die Bundesregierung hätte den Bundestag erneut um die Bewilligung weiterer Rettungsmilliarden bitten müssen.

Ist das alles aus deutscher Sicht nicht eine absurde Situation?

Stark: Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ausgerechnet die erfolgreichste europäische Zentralbank nach dem Zweiten Weltkrieg – die Bundesbank – in Europa einmal in eine absolute Minderheitenposition geraten würde. Lange galt die Bundesbank als Leitbild für erfolgreiche Geldpolitik. Und darauf baut die heutige Währungsunion auf! Eine solche Institution nun so ins Abseits zu stellen und  Positionen, die ihr jetziger Präsident vertritt, in Europa heute beinahe lächerlich zu machen – daß all das möglich ist, bedrückt mich sehr und ist kein gutes Zeichen für die Zukunft. Wir erleben einen Paradigmenwechsel.

Wie geht das alles aus?

Stark: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Man wird sich weiter durch die Krise „wursteln“. Es wird aus den vielen politischen Beschlüssen der vergangenen beiden Jahre eine neue „Ordnung“ in Eu-ropa entstehen – nur weiß niemand, ob diese wirklich tragen wird und ob wir das wirklich so wollen. Bezogen auf die EZB werden die Märkte irgendwann testen, wie ernst sie es mit ihren Beschlüssen meint. Ist sie bereit, wirklich den Stecker zu ziehen, wenn die Bedingungen nicht erfüllt werden? Ich sage nein – denn dann käme der Kollaps. Damit ist die EZB also Gefangene der Politik und der Märkte!

 

Prof. Dr. Jürgen Stark, der ehemalige Vize-Präsident der Deutschen Bundesbank war von 2006 bis 2011 Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank und eines von sechs Mitgliedern in deren Direktorium, dem Führungsgremium der EZB. Sein Nachfolger ist der ehemalige SPD-Staatssekretär Jörg Asmussen, der den Sitz nach Starks Rücktritt im Oktober 2011 übernahm. Stark war zunächst Referent im Bundeswirtschaftsministerium, dann Referatsleiter im Bundeskanzleramt, schließlich Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. 1999 wechselte er in den Vorstand der Bundesbank, deren Vize-Präsident er bis 2006 war, 2004 sogar Interimspräsident. Geboren wurde der Wirtschaftswissenschaftler, der in Stuttgart-Hohenheim und Tübingen studierte, 1948 in Gau-Odernheim bei Worms.

Fotos: Ex-EZB-Banker Jürgen Stark: „Wir sind einer Art Europa-Euphorie erlegen ... Daß es einmal einen kollektiven Rechtsbruch gibt, aber keinen Kläger, das ist für mich bis heute unfaßbar!“

 

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