© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Wenn das Ich langsam stirbt
Die Zahl der Demenzkranken wird sich bis 2050 verdoppeln / Bislang keine Heilung von Alzheimer in Sicht
Baal Müller

Derzeit leben etwa 1,3 Millionen Demenzkranke in Deutschland – Tendenz stark steigend. Denn der medizinische Fortschritt läßt uns alle zwar statistisch älter werden, doch damit steigt auch die Zahl von altersbedingten Krankheiten. Hinzu kommen die Auswirkungen der demographischen Entwicklung – deshalb wird sich die Zahl der Demenzkranken im Jahr 2050 verdoppelt haben.

Eine effektive Therapie gegen Altersdemenz und insbesondere gegen deren häufigste Form, Morbus Alzheimer – nach ihrem Entdecker Alois Alzheimer benannt –, ist trotz intensiver und teurer Forschungstätigkeit nicht in Sicht, obwohl verschiedene Substanzen, die etwa im Extrakt des Ginkgo-Baumes, im Antirheumatikum Ibuprofen oder in grünem Tee enthalten sind, womöglich eine positive Wirkung haben (JF 34/12). Auch bei der Vergabe von Insulin sowie dem Chemotherapeutikum Bexaroten hat man Beobachtungen gemacht, die künftige Therapien beeinflussen könnten. Bislang läßt sich jedoch nur das Fortschreiten um ein bis zwei Jahre verzögern (JF 15/12).

Das Hauptrisiko einer Erkrankung liegt im höheren Alter, es handelt sich um eine Degenerationserscheinung des Gehirns, bei der die kognitive Leistungsfähigkeit immer weiter zurückgeht. Zu den Ursachen zählt wohl eine, noch nicht vollständig geklärte, genetische Disposition sowie ein ungesunder Lebensstil – auffällig ist, daß Personen, die intellektuell anspruchslosen Tätigkeiten nachgegangen sind, häufiger erkranken als geistig regsame Menschen, aber vielleicht spielen hier auch unscharfe Diagnosen hinein: Schließlich liegt bei alters­typischen Abbauprozessen nicht immer Alzheimer vor, der durch Eiweißablagerungen im Gehirn gekennzeichnet ist und mit einer fortschreitenden Verminderung der neuronalen Kommunikation einhergeht. Auch vaskuläre (blutgefäßbedingte) Gehirnerkrankungen können ähnliche Demenzsymptome auslösen.

Die Krankheit beginnt oft viele Jahre, bevor eine Diagnose gestellt werden kann, mit leichten Beeinträchtigungen des Kurzzeitgedächtnisses und der Informationsverarbeitung; manchmal treten Depressionen, Verwahrlosung, Teilnahmslosigkeit oder aggressive Verhaltensweisen auf, wenn dem Patienten seine Leistungsminderungen bewußt werden. Oft macht er im vorgerückten Stadium seine ohnehin schon stark beanspruchten Mitmenschen für eigene „Fehler“ verantwortlich; Gedächtnis, Sprach- und Lernfähigkeit lassen immer weiter nach, und der Patient geht in einen apathischen Dämmerzustand über, aus dem ihn plötzliche Wutausbrüche herausreißen. Zuletzt ist er auch zu einfachsten Verrichtungen nicht mehr in der Lage, seine Muskulatur verkümmert, er wird bettlägerig und stirbt schließlich häufig an Lungenentzündung oder einem Herzinfarkt.

Zwar hat man den Verlust intellektueller Leistungsfähigkeit lange tabuisiert, inzwischen ist Alzheimer aber angesichts zunehmender Häufigkeit sowie der Erkrankung von Prominenten wie dem ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, dem Rhetorikprofessor Walter Jens, dem Industriellenerben und „Playboy“ Gunter Sachs, dem früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht oder dem Fußballmanager Rudi Assauer heute Gegenstand nicht nur medizinischer Fachdiskussionen, sondern auch kulturwissenschaftlicher Debatten – zu nennen sind hier der Roman „Small World“ (1997) des Schweizer Schriftstellers Martin Suter, „Demenz – Abschied von meinem Vater“ (2009) des Journalisten Tilman Jens und „Der alte König in seinem Exil“ (2011) des österreichischen Autors Arno Geiger.

Politische Brisanz erlangte die Krankheit Walter Jens’ durch das Bekanntwerden seiner NSDAP-Mitgliedschaft im Jahr 2003; sein Sohn hielt ihm vor, diese selbst vor der Familie verheimlicht zu haben, während er sonst stets „Vergangenheitsbewältigung“ einforderte, nahm ihn aber vor pauschaler Verurteilung in Schutz und behauptete, er habe sich nach dieser Enthüllung in die Demenz „geflüchtet“. Ob hier ein kausaler Zusammenhang besteht, muß allerdings bezweifelt werden, zumal er seinen Parteieintritt während seines gesamten Lebens „vergessen“ hatte.

Neben allen politischen und sozialen Herausforderungen, die eine Gesellschaft mit sich bringt, in der Demenzkranke einen beachtlichen Bevölkerungsteil stellen, verweist deren Präsenz auf die uralten Fragen nach dem Aufbau der menschlichen Persönlichkeit sowie dem Verhältnis von Leib, Geist und Seele. Inwiefern kann man den „verdämmernden“ Menschen, der nicht einmal mehr seine eigenen Kinder und Enkel erkennt, noch als Vater oder Mutter auffassen?

Wo endet die menschliche Identität, wenn die durch das Gedächtnis hergestellte Kontinuität der Person offenbar nicht mehr besteht? Ist jemand – in seltsamer Umkehrung des Locked-In-Syndroms, bei dem ein Mensch bei vollem Bewußtsein in einem regungslosen Körper gefangen ist – noch derselbe, wenn sich der Geist wie aus einer Hülle zurückgezogen hat? Und darf man überhaupt noch so optimistisch von einem „Rückzug“ sprechen, oder ist der Geist nur Ausdruck gewisser Hirnfunktionen?

Die Neurologen geben hier meist eine Antwort, die derjenigen der Religion widerspricht; und doch gibt es philosophische Argumente zugunsten eines körperunabhängigen Bewußtseins, die nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Bislang ist das Ich noch nirgends im Gehirn entdeckt worden, und wenn der Hirnforscher festgestellt zu haben glaubt, diese oder jene begrifflichen Konzepte beruhen auf der chemischen Aktivität bestimmter Neuronen, so kann ihm ebensogut entgegengehalten werden, daß auch die Erkenntnisse der Neurologie in begrifflichen, „geistigen“ Konzepten begründet sind.

 

Alzheimer – ein globales Problem

Die Alzheimer-Krankheit entwickelt sich zu einem weltweiten Problem. Laut Angaben des „World Alzheimer Report“ werden die Gesamtkosten für die Behandlung und Betreuung auf etwa ein Prozent der globalen Wirtschaftsleistung steigen – das wären derzeit mehr als 600 Milliarden Dollar. Das entspricht der gesamten Jahreswirtschaftsleistung der Türkei oder Indonesiens. Heilbar ist Alzheimer bisher nicht, die Behandlungskosten steigen schneller als die Erkrankungszahlen. 89 Prozent der Kosten fallen in den reichen Industrieländern mit hoher Lebenserwartung an, wo 46 Prozent der weltweiten Fälle versorgt werden. Britische Studien belegen, daß Demenz eine der teuersten Krankheiten überhaupt ist. Bei 85jährigen liegt die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, bei 50 Prozent. Derzeit leiden weltweit etwa 35 Millionen Menschen an Alzheimer. Bis 2030 rechnet man mit etwa 66 Millionen, und 2050 könnten es bereits 115 Millionen Fälle sein.

Die Jahresberichte des Weltverbandes Alzheimer‘s Disease International (ADI): www.alz.co.uk

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