© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Breslauer und Steinhuren
Mel Gordons Ausflug in das „Sündige Berlin“ zwischen Erstem Weltkrieg und Drittem Reich
Felix Krautkrämer

Als Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) 2005 die „internationale Leder- und Fetischszene“ zu ihrem Sadomaso-Festival mit einem Grußwort herzlich willkommen hieß, war die Aufregung in der Hauptstadt groß. Mußten die Leder- und Gummifetischisten wirklich durch das Stadtoberhaupt begrüßt werden? Schließlich handle es sich bei den Teilnehmern des „Folsom Europe“ um Leute, die „ihren Lebenssinn darin sehen, abartige Sexualmethoden zu praktizieren“, kritisierte der damalige Generalsekretär der Berliner CDU, Frank Henkel. Doch der bekennende Homosexuelle Wowereit sah das anders – und steuerte auch im Folgejahr ein Grußwort für die SM-Szene bei. Die Veranstaltung passe zu Berlin, schrieb er. Wowereits Argumentation ist nicht ganz von der Hand zu weisen, schließlich hat Berlin dank Loveparade, Christopher-Street-Day, diverser Rotlichtmeilen und einer präsenten Schwulenszene einen gewissen Ruf als „Mekka der Sünde“.

Doch sein Image als Stadt der Laster verdankt Berlin vor allem der Vergangenheit, genauer gesagt, der Zwischenkiegszeit. „Das Berliner Nachtleben, Junge, Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee; jetzt haben wir prima Perversitäten!“ beschrieb Klaus Mann die deutsche Hauptstadt der zwanziger Jahre in seinem autobiographischen Bericht „Der Wendepunkt“. Und wer einen Blick in Mel Gordons „Sündiges Berlin“ wirft, bekommt eine Ahnung davon, was der Schriftsteller meinte. Prostituierte – von der Straßendirne bis zur „Steinhure“ („unattraktive Frauen mit fehlenden Gliedmaßen, Buckeln oder anderen Deformationen“) –, Stricherjungen, Homosexuelle jedweder Façon, Päderasten, Transvestiten, Dominas, Sklaven: Was auch immer begehrt wurde, Berlin bot es. Der Harvard-Dozent Gordon hat eifrig gesammelt: Fotos, Zeichnungen, Programmhefte von Kabaretts, Nudisten-Magazine, Postkarten, sexuelle Reiseführer, Berichte über Lustmorde. Ein Glossarium erklärt szenetypischen Jargon aus der Halbwelt der Prostitution: Denn ohne Erklärung wüßte heute wohl kaum noch jemand, daß mit „Breslauer“ nicht nur Bewohner der schlesischen Odermetropole, sondern auch besonders reich bestückte Freier gemeint sein können.

Herausgekommen ist ein knapp dreihundertseitiger Bildband über das Berliner Nachtleben sowie die sexuelle Entwicklung in Deutschland in der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Den Anfängen der Freikörperkultur widmet der Amerikaner dabei ebenso ein eigenes Kapitel wie den verschiedenen Arten von Prostituierten, der Schwulenszene oder der Sexualmagie. Gleiches gilt für den Sexualforscher Magnus Hirschfeld und dessen Berliner Institut für Sexualwissenschaft, wobei Gordon aus seiner Sympathie für den Urvater der Homosexuellenbewegung kein Geheimnis macht.

Ergänzt wird der Band durch eine Art Reiseführer durch das „erotische Nachtleben im Berlin der zwanziger Jahre“, der neben Schwulenbars, Lesbenlokalen, Travestie-Clubs und Nudisten-Treffpunkten auch zwei Etablissements aufführt, die im Dritten Reich weitergeführt werden durften.

Mit Vorsicht genossen werden sollten allerdings Gordons Ausflüge auf das Gebiet der Geschichtswissenschaft. Denn ob Sex dem Kaiser den Sieg im Weltkrieg vereitelte, wie der Autor mit Verweis auf Spioninnen wie Mata Hari und „Orgien im Stil des alten Roms“ als „wesentlicher Bestandteil des Lebens in der Etappe“ mutmaßt, dürfte genauso fragwürdig sein wie seine Schilderungen über die Schützengräben. Dort hätten „homosexuelle Beziehungen und Vergnügungen im Fummel“ zum Alltag gehört. „Statt sich von Fotos ihrer Verlobten anregen zu lassen, griffen die kriegsmüden Truppen zu SM- und Fetischbildern, die sie in kalter Verzückung anstarrten“, weiß Gordon zu berichten. Hunderte und Tausende deutscher Soldaten hätten sich so „aus den Zwängen der Friedenszeit“ befreit.

Mel Gordon: Sündiges Berlin. Die zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang. Index Verlag, Wittlich 2011, gebunden, 279 Seiten, Abbildungen, mit Schlager-CD, 39,99 Euro

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