© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Der Verfassungsschutz wird politisch mißbraucht
Schlappe Hüter
Wolfgang Kaufmann

Ende der siebziger Jahre bezeichnete der damalige Bundesinnenminister Gerhard Baum (FDP) den Verfassungsschutz als „Schreckschußpistole“ – und damit hatte er zweifellos recht. So litt die Effektivität des 1950 gegründeten Bundesamtes beziehungsweise der Landesbehörden für Verfassungsschutz unter der massenhaften Einstellung ehemaliger NS-Chargen. Immerhin kamen schätzungsweise 800 „gestandene Experten“ des Dritten Reiches, vorzugsweise aus Himmlers Reichssicherheitshauptamt, der Gestapo und dem Sicherheitsdienst, beim bundesdeutschen Inlandsnachrichtendienst unter.

Ein typisches Beispiel hierfür ist Richard Gerken, der sich im Reichssicherheitshauptamt (Amt IV) bis zum SS-Obersturmbannführer heraufgedient hatte und unter anderem an der Verfolgung der Attentäter des 20. Juli 1944 beteiligt gewesen war. Ihre Vergangenheit, die sie zunächst vielfach erfolgreich verbergen konnten, machte die Altkader logischerweise zu einem Sicherheitsrisiko. Denn die östlichen Geheimdienste, allen voran die Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit, der KGB sowie der sowjetische Militärgeheimdienst GRU, wußten um die NS-Verstrickungen und damit die Erpreßbarkeit vieler wichtiger Verfassungsschützer und nutzten diese weidlich aus, um Doppelagenten zu rekrutieren.

Deshalb waren sowohl das Bundesamt als auch die Landesbehörden von Ost-„Maulwürfen“ unterwandert. Später stießen dann noch jüngere „Selbstanbieter“ hinzu, welche aufgrund von Trunksucht oder Geldgier zu Verrätern wurden wie Hansjoachim Tiedge und Klaus Kuron, der sich von Markus Wolfs Hauptverwaltung Aufklärung sogar eine zusätzliche Altersversorgung finanzieren ließ.

Zudem krankte der Verfassungsschutz an völliger bürokratischer Verkrustung und einer geradezu atemberaubenden Inkompetenz. Unter anderem hatten die Genies im Kölner Bundesamt einen Kanzler namens Adenauer in ihren Karteien erfaßt, allerdings mit dem Vermerk „Vorname unbekannt“! Zugleich sah sich der pedantische Verfassungsschutz-Präsident Hubert Schrübbers, welcher das Amt 17 endlos-unproduktive Jahre leitete, bevor er dann 1972 über seine Vergangenheit als NS-Oberstaatsanwalt stolperte, gezwungen, die ihm unterstellten Schlapphüte per formeller Dienstanweisung und aus gegebenem Anlaß aufzufordern, „Bierleichen rechtzeitig in Sicherheit zu bringen“.

Weniger besorgt als um ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit waren die Verfassungsschützer hingegen um hochbrisante Geheimdokumente, denn die wurden aus Kostengründen bis in die achtziger Jahre hinein mit der Deutschen Post versandt – im blinden Vertrauen darauf, daß schon kein Unbefugter seine Nase in die „Wertbriefe“ des Bundesamtes hineinstecken werde. Dieser Dilettantismus sorgte bei den westlichen Partnerdiensten für Alpträume, für die sich die CIA nach der „Wende“ in der DDR unter anderem dadurch revanchierte, daß sie dem Bundesamt für Verfassungsschutz wertvolle Stasi-Unterlagen vor der Nase wegschnappte.

Mit dem Ende des Kalten Krieges sah sich der Verfassungsschutz dann genötigt, seine Unentbehrlichkeit durch allerlei Kassandrarufe zu beweisen; zugleich kultivierte er neue Feindbilder, darunter das des Rechtsextremisten. Allerdings fehlte ihm auch hier zuweilen ein glückliches Händchen. Man denke nur an die hochnotpeinliche Zeit, in der Internetnutzer beim Eingeben von „www.verfassungsschutz.net“ auf der Website des prominenten amerikanischen Auschwitz-Leugners Gerhard „Gary“ Lauck landeten.

Parallel hierzu verhallten die Warnungen des ehemaligen Chefs des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz, Hans Josef Horchem, vor einem hausgemachten islamischen Terrorismus ohne jedes Ergebnis – bis zum 11. September 2001, in dessen Nachgang klar wurde, daß die Attentäter ihre Anschläge in der Hansestadt vorbereitet hatten. Doch statt diesen Umstand zu nutzen, um den deutschen Inlandsgeheimdienst endlich in ein wirklich schlagkräftiges Instrument zum Schutze der demokratischen Ordnung umzuformen, obsiegten wiederum nur Aktionismus und Konfusion.

Der größte Schaden entstand dem Verfassungsschutz jedoch nicht aufgrund seiner multiplen selbstverursachten Gebrechen, sondern infolge all der Eingriffe beziehungsweise Vorgaben von seiten der Politik, welche man mit Fug und Recht als Kastration bezeichnen kann. Das beginnt schon mit der Gängelung sämtlicher deutscher Nachrichtendienste durch das Parlamentarische Kontrollgremium und diverse Fachausschüsse des Bundestages sowie die immer wieder gern eingesetzten Untersuchungsausschüsse.

Auch normale Bundestagsabgeordnete haben ein Fragerecht in Geheimdienstbelangen, wie das Bundesverfassungsgericht 2009 entschied; deshalb gibt es wohl kaum ein zweites Land auf der Welt, in dem das Parlament dermaßen in die Geheimdienste hineinblicken darf. Angesichts dieses Transparenzwahnes ist es kaum verwunderlich, wenn immer wieder Interna des Verfassungsschutzes ihren Weg in die Medien finden – schließlich wollen sich die Parteien ja gegenüber der Öffentlichkeit profilieren, wozu nun einmal auch das gezielte Lancieren von Informationen gehört. Außerdem werden die Verfassungsschutzbehörden durch die strikte Trennung von Polizei und Inlandsgeheimdienst sowie das föderale Prinzip ausgebremst. Wie soll unter diesen Bedingungen eine effektive Arbeit möglich sein, von Synergieeffekten ganz zu schweigen?

Hinzu kommt das Personalproblem. Da der Verfassungsschutz hierzulande oft als Schmuddelverein apostrophiert wird, welcher eine ähnlich große Gefahr für die Demokratie darstelle wie die Gruppierungen, die er zu überwachen habe, werden mit schöner Regelmäßigkeit Exempel an Führungspersonen statuiert, wenn es zu tatsächlichen oder vermeintlichen Pannen gekommen ist. Damit wird dem Bürger signalisiert, die Politik habe den ungeliebten, aber leider eben auch unverzichtbaren Wachhund fest an der Leine beziehungsweise dem Würgehalsband.

Die Folge einer solchen Vorgehensweise ist, daß wirkliche Spitzenkräfte einen entsetzten Bogen um die Chefsessel im Verfassungsschutz machen. Und genauso ist die extreme Konzentration von Verwaltungsjuristen, sprich Bürokraten, auf den mittleren Ebenen politisch gewollt: bloß keine Vollblutgeheimdienstler ins Boot holen, welche dann all die schlimmen Dinge treiben könnten, die wir aus James-Bond-Filmen kennen und die selbstverständlich sämtlichen gutmenschlichen Werten widersprechen. Es reicht schon, wenn der Chef des Thüringer Landesamtes barfuß durch sein Büro spaziert.

Ein Beispiel für unsinnige Vorgaben von außen, die nunmehr dazu führen, daß der Verfassungsschutz als finsterer Staat im Staate dasteht, bietet das Bundesverfassungsschutzgesetz. Hierin hat der Gesetzgeber zwar genau geregelt, wie lange personenbezogene Daten in Datenverarbeitungsanlagen gespeichert werden müssen beziehungsweise dürfen, eine analoge Vorschrift für in Papierform vorliegende Akten fehlt indes, weshalb es unredlich ist, wenn sich Mitglieder der Legislative jetzt über die Schredderaktionen ereifern.

Die selbst zu verantwortenden Mängel, das unqualifizierte Hineindirigieren seitens der Politik sowie das verlogene Mediengeheul versetzen den Verfassungsschutz derzeit in eine Art Schockstarre, in der vor allem eine Devise gilt: Um keinen Preis auffallen oder gar den Schwarzen Peter an die zurückgeben, bei denen er deutlich besser aufgehoben wäre! Das aber ist ein großer Fehler, denn dieses ängstliche Abducken eröffnet den Feinden des Verfassungsschutzes die Möglichkeit, zum letzten Angriff zu blasen und die komplette Abschaffung des Inlandsgeheimdienstes zu fordern.

Dabei schwingen jedoch nicht die „Rechten“ als die angeblich schlimmsten Gefährder der freiheitlich-demokratischen Grundordnung das große Wort, sondern die Liquidierungsaufrufe kommen von einer Koalition aus Linksextremisten, Migrationslobbyisten, antiautoritär gestimmten Weltverbesserern und auf ewig stasitraumatisierten Ex-Bürgerrechtlern. Begründet wird die Forderung, „über die Abschaffung des Verfassungsschutzes nachzudenken“ (Originalton Kenan Kolat, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland), unter anderem mit der Unterstellung, die sogenannte „Terrorzelle“ des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) habe „Helfer im Sicherheitsapparat“ gehabt.

Aus diesem Grunde verlangten Tamer Düzyol und Arif Rüzgar, beide tätig an der Universität Erfurt, sogar die Einsetzung einer „Internationalen Untersuchungskommission“, weil der deutsche Staat wohl kaum von selbst zur Aufklärung der Causa NSU fähig sei. Die beiden türkischstämmigen Jungakademiker drohten Ende Juni 2012 in Jakob Augsteins linksliberalem Meinungsmedium Der Freitag, daß sich „Gruppen in der Gesellschaft“, mit denen sie natürlich die Migranten meinten, „aus vermeintlichem Selbstschutz mobilisieren und bewaffnen“ könnten.

Demgegenüber steht freilich eine aktuelle Umfrage, welche ergab, daß 57 Prozent der Deutschen weiterhin ein großes bis sehr großes Vertrauen in die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik haben. Aber dieses Votum, welches um so erstaunlicher ist, wenn man das Trommelfeuer der Medien bedenkt, interessiert die Möchtegern-Abwickler des Verfassungsschutzes nicht im geringsten: Sie wollen die Aufgaben des Inlandsgeheimdienstes sogenannten zivilgesellschaftlichen Initiativen übertragen, wobei sie deren Tätigkeitsspektrum – wie nicht anders zu erwarten – auf den „Kampf gegen Rechts“ reduzieren.

So verkündete es zum politischen Aschermittwoch 2012 die Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast und so beten dies nun ihre Parteifreunde, Antifa-Aktivisten, diverse Vereine und „Dokumentationsstellen“ sowie Politiker der Linkspartei nach. Zugleich wird die Forderung laut, die zivilgesellschaftlichen Fahnder und Kämpfer gegen „Rechts“ mit den Geldern zu alimentieren, die durch die Abschaffung des Verfassungsschutzes freiwerden würden (was dann einen warmen Regen von einigen hundert Millionen Euro ergeben könnte).

Das alles liefe selbstverständlich darauf hinaus, den Bock zum Gärtner zu machen, das heißt Verfassungsfeinde von Linksaußen zu Gesinnungspolizisten zu ernennen, die Andersdenkende oder Personen, die irgendwie nicht in ihr Weltbild passen, erst denunzieren und dann der medialen Hinrichtung zuführen dürfen – quasi eine Perpetuierung der Verfahrensweise im Falle Nadja Drygalla.

Andererseits geht es bei der Attacke gegen den Verfassungsschutz aber nicht nur um Geld und Einfluß, sondern auch um ganz banale Selbstverteidigung. Das brachte Heiner Busch, der Vorsitzende des linkslastigen Komitees für Grundrechte und Demokratie, in seiner Warnung an alle Gesinnungsgenossen trefflich auf den Punkt: „Wer auf geheimdienstliche Mittel und Parteiverbote im Kampf gegen Rechts setzt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die gegen Links und ‘ausländische Extremisten’ eingesetzt werden.“

Derzeit scheint es zwar so, als ob das Thema Abschaffung vom Tisch ist, doch schon die nächste Panne wird es unweigerlich wieder aufs Tapet bringen. Deshalb gilt heute wie in Zukunft: Schützt den Verfassungsschutz! Schützt ihn trotz aller hausgemachten Mängel und der von oben oktroyierten Zahnlosigkeit, damit nicht eine „zivilgesellschaftliche“ Denunziantenmafia an seine Stelle tritt und fettgemästet wird. Schützt den Verfassungsschutz, weil dieser im heutigen gesellschaftlichen Klima das mit Abstand kleinere Übel ist!

 

Dr. Wolfgang Kaufmann, Jahrgang 1957, Historiker, lehrte an der Uni Leipzig und ist heute im privaten Bildungssektor tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Klimahysterie gestern und heute („Unsere Erbsünde“, JF 27/12).

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