© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/12 05. Oktober 2012

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Kohls gestopfte Trompeten
Marcus Schmidt

Politische Gedenkveranstaltungen in Anwesenheit des Geehrten sind nicht für kritische Reflexionen gedacht. Vielmehr werden die Leistungen des Betreffenden in den schönsten Farben ausgemalt und das Ganze in einen möglichst ansprechenden Rahmen gepackt. Dieser Rahmen war in der vergangenen Woche barock: Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hatte in den überdachten Innenhof des Berliner Zeughauses, Sitz des Deutschen Historischen Museums, geladen, um an den 30. Jahrestag der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler am 1. Oktober 1982 zu erinnern. Gekommen war alles, was Rang und Namen hatte – in der längst vergangenen Bonner Republik. Und so fühlten sich viele Besucher angesichts der vielen bekannten Gesichter, die in den achtziger und neunziger Jahren die Politik bestimmt hatten, wie in einer Zeitblase. Neben den aktuellen Kabinettsmitgliedern waren unter anderem Theo Waigel (CSU), Rudolf Seiters (CDU) und Klaus Kinkel (FDP) der Einladung gefolgt und hatten dem von einem Schlaganfall gezeichneten Kohl die Ehre erwiesen.

Die zahlreichen Vertreter der ausländischen Presse zeigten wieder einmal, welche Bedeutung Kohl als Staatsmann im Ausland zugeschrieben wird. Ob das mit seinen Verdiensten um die Wiedervereinigung oder die Abschaffung der D-Mark zusammenhängt, ist dabei nicht immer ganz klar. Geehrt wurde Kohl an diesem Abend jedenfalls als „Kanzler der Einheit und Ehrenbürger Europas“. Doch der erkrankte Karl Kardinal Lehmann erinnerte in seinem Vortrag, der vom Berliner Statthalter der Bischofskonferenz, Karl Jüsten, verlesen wurde, daran, daß die Ablösung der sozialliberalen Koalition durch Schwarz-Gelb von vielen mit der Erwartung einer „geistig-moralischen Wende“ verbunden worden war. Lehmann nahm den Altkanzler gegen die Vorwürfe nicht nur der Konservativen in Schutz, die sich nach der Regierungsübernahme darüber beklagten, daß die Wende ausblieb. Kohl habe wohl von Anfang an gewußt, daß die Grundwerte und jede Form einer geistigen Erneuerung nicht auf dem politischen Parkett produziert und verwaltet werden könnten. „Der Realist Helmut Kohl weiß genau, daß das Thema nur mit gestopften Trompeten gespielt werden darf“, sagte Lehmann. Mit anderen Worten: Es war überhaupt nie geplant, die „Wende“, mit der trefflich die eigenen Anhänger mobilisiert wurden, auch politisch umzusetzen.

Wie wenig sich in den vergangenen 30 Jahren verändert hat, und wie sehr sich gleichzeitig die Maßstäbe verschoben haben, machte unfreiwillig die Bundeskanzlerin deutlich. In ihrer Rede verwies sie auf die Haushaltslücke „von ungefähr 55 bis 60 Milliarden DM“, die die Kohl-Regierung vorgefunden habe und die angesichts der Beträge, mit denen die aktuelle Bundesregierung in der Euro-Krise hantiert, geradezu bescheiden wirken. „Sie wußten aber auch: Weit über die Verhältnisse zu leben würde letzten Endes zu keinem guten Ende führen“, sagte Angela Merkel. Für einen kurzen Augenblick war nicht deutlich, ob sie von der Vergangenheit oder der Gegenwart sprach.

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