© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/12 28. September 2012

Pankraz,
W. Streeck und die Expertendämmerung

Ausführlichkeit bei der Klärung von Sachverhalten ist nicht unbedingt die beste Methode. Das wird einem bei der Lektüre des September/Oktober-Doppelhefts 2012 des Merkur, der „deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“, so recht bewußt. Es ist dem Thema „Macht und Ohnmacht der Experten“ gewidmet und kommt auf fast 250 eng bedruckten Seiten derart vom Hundertsten ins Tausendste, daß der Leser am Ende nur noch den Wunsch nach sowohl knapperer als auch genauerer Belehrung verspürt.

Soviel ist allerdings klar und liefert auch den Anlaß für das Merkur-Sonderheft: Wir erleben zur Zeit eine noch nie dagewesene Expertendämmerung. Die Krise ist groß, alle von ihr Betroffenen dürsten nach verläßlichem Expertenrat – doch alle sogenannten oder sich selbst so nennenden Experten stochern hilflos und wortreich im Nebel herum. Oder – schlimmer noch – sie sind, wie Wolfgang Streeck vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung im Merkur grimmig konstatiert, gar nicht interessiert an solidem öffentlichen Rat, stehen vielmehr im Dienst schlauer, gieriger Krisengewinnler.

Zitat Streeck: „In der Finanzwirtschaft ist ein Experte jemand, der in keiner Notregierung mehr fehlen darf – und im Dienst von Goldman Sachs steht (…) Die Böcke als Gärtner und die Brandstifter als Biedermänner? Ist das, was sie angerichtet haben, tatsächlich derart, daß nur sie es wieder entwirren können? Oder ist, was als Rettung deklariert wird, in Wirklichkeit eine Schlüsselübergabe an übermächtig gewordene Belagerer, verbunden mit ergebenen Bitten um milde Behandlung?“

Keineswegs ist das ignorante oder hinterhältige Expertengebaren auf die Finanzkrise beschränkt. Immer mehr gesellschaftliche Bereiche werden von ihm überschwemmt. Im Kunst- und Auktionsbetrieb etwa sind Experten unterwegs, die Bildfälschungen für „echt“ erklären (und sich nach erfolgter Preisexplosion manchmal den Gewinn mit den Fälschern ungeniert teilen). Und die horrenden Summen, die vom Staat in den Naturwissenschaften ausgelobt werden, ziehen Experten jeder nur möglichen Couleur an wie der Honigtopf die Raubwespen.

Natürlich ist beileibe nicht jeder Experte ein kaltblütiger Absahner oder gar Betrüger. Aber das allgemeine Niveau des Expertentums hat in den letzten Jahrzehnten doch sehr gelitten, was zum guten Teil gar nicht an den Experten selbst liegt, sondern an denen, die Expertenrat suchen. Die diversen „Kulturrevolutionen“ seit Mitte des vorigen Jahrhunderts und die Ausbreitung der Pop-Mentalität haben einerseits das intellektuelle Niveau resolut gesenkt, andererseits aber den Glauben an die angebliche Allzuständigkeit der Wissenschaft ins schier Unermeßliche vorgetrieben. Und das hatte Folgen.

Da „man“ sich heute nun selber (meist zu Recht) für unbedarft hält und die Ignoranz für einen Normalzustand auch und gerade unter Entscheidungsträgern, setzt man alle verbliebene Hoffnung auf die „wissenschaftlichen Experten“, die es angeblich für sämtliche Lebenslagen und besonders für die Politik gibt. Das hat zusätzlich den Vorteil, daß man sich gegebenenfalls vor der Verantwortung drücken kann. Man hat es ja so gut gemeint! Man hat für gutes Geld die teuersten Experten als Problemlöser eingekauft – wenn es dann trotzdem schiefgeht, ist man nicht so leicht zu belangen.

Das Gros der Experten hat sich inzwischen voll an die Lage angepaßt, was zu einer fast grotesken Ausdifferenzierung des Expertentums geführt hat; es war jedoch keine wirkliche Ausdifferenzierung, sondern eher eine „Eindifferenzierung“. Greift die Wissenschaft, so wie sich Idealisten das vorstellen, üblicherweise in vollkommen neuartige, auch ungeheuer ausgedehnte Erkenntnisräume aus, so begnügt sich das moderne Expertentum damit, den Raum seiner Zuständigkeit immer weiter zu verkleinern.

Wenn heute, wie es in der herrschenden Pop-Welt Tag für Tag geschieht, lebensweltliche Selbstverständlichkeiten zum „Problem“ werden, wenn jemand buchstäblich nicht mehr weiß, wie er seine Schuhe zuschnüren soll oder wie man beim Gehen einen Fuß vor den anderen setzt, dann kommen eben die Experten und verkaufen für hohe Summen, was sich eigentlich von selbst versteht. Es sind keine schlichten Soziologen mehr, sondern „Gewalt-Soziologen“, „Büro-Soziologen“, „Extremismus-Soziologen“, „Küchen-Soziologen“ usw. usw.

Ihr Kleinwelt-Spezialistentum bedeutet freilich nicht, daß sie handliche lebensweltliche Ratschläge erteilen, wie sie auch jede tüchtige Hausfrau in der Reserve hat, sondern ihr Anliegen ist es, schlichte Selbstverständlichkeiten mit Jargon zu überziehen, mit „Schrumpelprosa“, wie es einst der Frankfurter Erzähler und Spaßvogel Eckhard Henscheid formuliert hat.

Nicht der faustische Drang, immer Neues wissen zu wollen, prägt die Experten neuen Stils, sondern der Drang, sich eine ganz kleine, aber eigene Schrebergartenparzelle aus der bereits vorhandenen Welt des Wissens herauszuschneiden und sie mit Spezialjargon vollzustellen, um so zu Geld und medialem Beifall zu kommen. Schon Nietzsche hat sich seinerzeit über solche Experten lustig gemacht. „Sie wissen alles über den Bandwurm“, spottete er, „doch sonst wissen sie nichts.“

Gelehrte wie der verstorbene Erwin Chargaff haben auf die niederschmetternden Folgen von derlei Expertentum entschieden aufmerksam gemacht. Die traditionellen Lebenspraktiken werden nicht weiterentwickelt oder auch nur verfeinert, im Gegenteil, sie werden lahmgelegt, indem man ihre Ausüber verunsichert, sie von primärer Erfahrung abschneidet, sie ihren spontanen Fähigkeiten entfremdet. „Je mehr Kriminologen, um so höher die Verbrechensrate“, seufzte Chargaff, „je mehr Sexologen, um so tiefer die sexuelle Verelendung, je mehr pädagogische Lehrstühle, um so weniger gut erzogene Jugendliche.“

Hoffentlich ändert sich das irgendwann wieder. Das voluminöse Merkur-Doppelheft 2012 könnte immerhin den Startschuß dafür gegeben haben.

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