© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Vom allgemeinen Willen zur Meinungsdiktatur
Die mörderischen Tücken des Rousseauschen Gesellschaftsmodells
Mario Kandil

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hat bis heute nichts von seinem Ruf, einer der bedeutendsten geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution von 1789 zu sein, eingebüßt. In der Tat hat der schweizerisch-französische Philosoph, der meinte, „der Mensch an sich ist gut“, auf die politischen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts gewaltigen Einfluß genommen. Wie sehr seine am Ende in die Terrorherrschaft Robespierres mündende Idee vom „allgemeinen Willen“ (franz.: volonté générale) noch in unseren Tagen der Einschränkung von Meinungsfreiheit Vorschub leistet, zeigen immer wieder aktuelle Begebenheiten aus der Bundesrepublik, wenn ein Lokalpolitiker wie Claus Hübscher wegen einer Reise zu Irans Präsident Ahmadinedschad von der örtlichen Volkshochschule Delmenhorst, wo er Vorsitzender des Dozentenrats gewesen war, entlassen wird, weil der FDP-Mann „dem Ansehen der Volkshochschule erheblich geschadet“ habe.

In seinem 1762 herausgekommenen Werk „Du contrat social ou principes du droit politique“ (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts) kommt dem „allgemeinen Willen“ eine zentrale Bedeutung zu. Nach Rousseau ist dessen Bildung Ausdruck der Gesamtheit des Volkes. Dieser Wille, dem sich jeder unterwerfen muß – wozu er bei Weigerung gezwungen werden kann –, ist Rousseau zufolge beständig der richtige und zielt auf das allgemeine Beste ab. Die Staatshoheit (Souveränität) ist unveräußerlich und unteilbar. Daher wendet sich Rousseau gegen jegliche Gewaltenteilung und übt indirekt Kritik an dem französischen Philosophen und Staatsrechtler Charles de Montesquieu (1689–1755). Dieser hatte in seinem zentralen Werk „De l’esprit des lois“ (Vom Geist der Gesetze, 1748) das englische Verfassungsmodell idealisiert und gesagt, Freiheit gebe es nur, wenn Legislative, Exekutive und Judikative streng voneinander getrennt seien. Sonst drohe Despotie.

Daß Montesquieu die Übertragung geteilter Macht auf vom Volk gewählte Repräsentanten propagierte, mißfiel Rousseau sehr. Ihm zufolge war lediglich im Augenblick der Wahl das Volk im politischen Sinn „frei“. Danach jedoch falle es wieder in den Zustand der Unfreiheit zurück, in dem es sich vor der Wahl befunden habe. In dem Staatsmodell Rousseaus gibt es kein von einer Person verkörpertes, sondern nur ein ausschließlich vom Volk gebildetes kollektives Staatsoberhaupt. Das Volk übt die Macht direkt aus, und es herrscht eine direkte plebiszitäre Demokratie, deren Vorbild für Rousseau der Stadtstaat Genf war. In ihrer Gesamtheit nimmt die Bürgerschaft aktiv an allen politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teil – ein Graus für die heutige bundesdeutsche Politikerkaste. So hat sich Angela Merkel stets gegen mehr direkte Demokratie in diesem unserem Land gewandt.

Es heißt bei Rousseau ferner, daß zwar die Macht übertragbar sei, aber nicht der „allgemeine Wille“. Maximilien de Robespierre (1758–1794) hat diese Aussage Rousseaus als Legitimation für die Errichtung seiner Diktatur betrachtet. Der Begründer des blutigen Terrors des Wohlfahrtsausschusses behauptete zusammen mit seiner Partei, den Jakobinern, den „allgemeinen Willen“ zu kennen und so zu dessen Vollstreckung berechtigt zu sein. Dazu lieferte ihm Rousseaus Staatstheorie die ideologische Basis. Denn der große Denker, dem Robespierre als Student einmal persönlich begegnete, sagt ja, daß sich ein jeder dem „allgemeinen Willen“ zu unterwerfen habe. Ahnte Rousseau, daß aus zwei oder drei Kapiteln seines „Gesellschaftsvertrags“ dieser junge Mann ein Meer von Blut machen würde?

Rousseau sah den Staat nicht nur als gefährdet an, wenn die citoyens (Staatsbürger) über der Ausübung ihrer Rechte die Wahrnehmung ihrer Pflichten vernachlässigten. Er sah auch in Parteien den Staat gefährdende Faktoren, da sie jenen allmählich unterwandern und die volonté générale – das Gegenstück zur volonté de tous (Summe aller Einzelwillen) – zerstören würden. Parteien galten ihm nur als Ausdruck verderblicher Einzelinteressen, denn sie ließen die Bürger vom „allgemeinen Willen“ abrücken.

Von da ist es nicht mehr weit zur in der Gegenwart immer mehr um sich greifenden Einschränkung der Meinungsfreiheit. Diese neue Meinungsdiktatur kommt zwar nicht mit der Guillotine Robespierres daher. Sie vergießt – zumindest hierzulande – keine Ströme von Blut, vernichtet aber auch Existenzen: durch Ausgrenzung, faktische Berufsverbote, Rufmord soziale Isolation etc. Und auch diese Bekämpfung aller „Abweichler“ geschieht – wie in totalitären Systemen – zum Schutz des „allgemeinen Willens“, der doch angeblich nur dem allgemeinen Besten dient. Was aber verbirgt sich hinter dem „allgemeinen Willen“? In den Vereinigten Staaten ist es fast immer die „nationale Sicherheit“. In der Berliner Republik könnte es die von Merkel konstruierte „Staatsräson“ sein. Und in der gesamten westlichen Welt ist es der Kampf gegen den Terrorismus.

Wer diese diversen, aber eine Art Kanon bildenden Ausprägungen der volonté générale von heute auch nur zu hinterfragen wagt, muß definitiv damit rechnen, aus der Gemeinschaft der „Guten“ ausgeschlossen und – je nach dem Grad seiner Opposition – Repressionen ausgesetzt zu werden. Eine solche in der Tradition Rousseaus stehende Diktatur des „allgemeinen Willens“ ist aus dem Grund so omnipotent, daß Freiheit und Demokratie an sich jedem Menschen als Werte gelten, die als das „Gute“ schlechthin einfach nicht zu negieren sind. Wer wollte sich schon als Feind von Freiheit und Demokratie präsentieren? Immer wieder werden diese hehren Werte als Vorwand mißbraucht, um sie in Wahrheit auszuhöhlen und dann abzuschaffen. Das ist Rousseaus böses Vermächtnis.

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