© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Die Krankheit des alten Kontinents
Der sowjetische Virus
Klaus Hornung

Im Blick auf die nächste Bundestagswahl reiht sich die SPD in die Front der bedingungslosen Euro-Retter ein bis hin zu ihrer Bereitschaft, auch die EZB-Politik des lockeren Geldes mitzumachen ohne Rücksicht auf ihre Klientel der „kleinen Leute“ in Deutschland. Im Sinne ihres Parteiphilosophen Jürgen Habermas plant sie neue große Schritte zur europäischen Integration. Ihre Berater um Habermas wollen eine deutsche Initiative zu einem europäischen Verfassungskonvent starten mit dem Ziel einer europäischen Verfassung, die aber dann doch keinen europäischen Bundesstaat konstituieren soll, weil der die Völker noch überfordere.

Doch im gleichen Atemzug fordern sie eine bedingungslose europäische Haftungsgemeinschaft und eine Aufwertung des Parlaments in Straßburg zu einem vollgültigen Parlament für Europa, was doch wohl das Kernmerkmal eines Bundesstaates ausmacht. Vor allem aber will die SPD an ihrem zentralen Programmpunkt eines „demokratischen Sozialstaates“ für ganz Europa festhalten, obwohl gerade er wesentlich zur Euro-Krise und ihrem babylonischen Schuldenturm beigetragen hat. Einmal mehr zeigt die SPD, daß der Internationalismus ihrer Tradition auch in der jetzigen schweren Krise ihre Bereitschaft zur Anpassung an die Wünsche und Interessen der anderen unter dem Stichwort internationaler Solidarität fördert, auch auf Kosten der eigenen Bürger und ihrer Interessen. Das war unmittelbar nach dem Krieg in der Ära des legendären und patriotischen Vorsitzenden Kurt Schumacher noch anders gewesen. Später, nicht zuletzt unter dem Einfluß ihres 68er-Nachwuchses, änderte sich das.

Und noch deutlicher wurde es bei ihren grünen Generationsablegern, die bis in die achtziger Jahre mit einer Fundamentalopposition gegen den kapitalistischen Westen und die imperialistische Nato begonnen hatten und dann immer mehr auf Westkurs einschwenkten, als die Chance winkte, Regierungspartei zu werden. Joschka Fischer wurde zum Vorkämpfer dieses Opportunismus, vor allem mit seinem Plädoyer für den bedingungslosen Bundesstaat Europa.

Seine Ausrufung von „Auschwitz“ zum „Gründungsmythos“ der Bundesrepublik Deutschland sollte die Bundesgenossen, vor allem die Amerikaner, vollends von der neuen deutschen Nibelungentreue überzeugen. Das Ergebnis war die bedingungslose deutsche Teilnahme am Jugoslawienkrieg der Nato, dem ersten Kriegseinsatz deutscher Streikräfte seit 1945, nun ausgerechnet unter grün-roter Patronanz. Das alles zeigt, daß der bedingungslose Westkurs der Bundesrepublik zu nichts weniger als zu einer souveränen deutschen Politik führte und viele Elemente einer einfallslosen Nachtrabpolitik im Bündnis enthält. Die Europapolitik aller heutigen deutschen Parteien läuft wieder einmal auf einen deutschen Sonderweg hinaus, der seine Wurzeln in der unglücklichen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hat mit ihren Niederlagen in zwei Weltkriegen, der Katastrophe der totalitären Hitlerdiktatur und der fast ein halbes Jahrhundert dauernden nationalen Teilung.

Völlig anders sind hingegen die Geschichtserfahrungen der Mehrheit der Völker in Europa im 20. Jahrhundert. Von Großbritannien und Frankreich bis zu den EU-Mitgliedstaaten in Osteuropa, den baltischen Völkern, den Polen, Tschechen und Ungarn, ist der Nationalstaat immer noch der vorrangige Existenz-Anker, zumal in Zeiten der Krise und Gefahr. Sie alle haben ihn in den zwei Weltkriegen erfolgreich verteidigt, die Osteuropäer dann gegen die totalitäre sowjetische Fremdherrschaft. Das ließ eine völlig andere Grundhaltung gegenüber der europäischen Einigung entstehen als bei den Deutschen.

Hinzu kommen die Erfahrungen mit der Europäischen Kommission in Brüssel, um zu verstehen, warum das europäische Projekt in allen Mitgliedsländern der EU und schließlich auch bei den Deutschen Schritt für Schritt an Zustimmung verloren hat und ein Weiter-so der EU mit dem institutionellen Kern der Kommission als künftiger europäischer Regierung undenkbar ist. Der Traum vom vereinigten Europa gebar ein verfassungspolitisches Monstrum, ein typisches Produkt technokratischen Denkens, schöpferisch vor allem in seiner Regulierungswut von Traktorbremsen bis hin zum Krümmungsgrad der Gurken. Mit ihren rund 40.000 hochprivilegierten Beschäftigten ist sie ein Institut der Selbstbedienung geworden. Sie trägt wesentliche Verantwortung für den Vertrauensverlust, den die Europäische Union in den letzten Jahrzehnten bei den Bürgern und Wählern erlitten hat, wie etwa die beiden zu Unrecht schon vergessenen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gegen den ersten europäischen Verfassungsentwurf im Jahr 2005 zeigten. Zwischen 2007 und 2011 sind dann die Zustimmungsraten zu Europa in der Gesamt-EU noch einmal weiter von 52 auf 31 Prozent abgesackt.

Der Kommission ist es jedenfalls nicht gelungen, das Bild der Europäischen Union als eines den Menschen fernen Elitenprojekts, als einer Union der Banken und Konzerne abzustreifen. Schon die Architektur des Kommissionssitzes in Brüssel, ein Mammutbau in Beton nach dem Muster jeder beliebigen Konzernzentrale ohne geistige Ausstrahlung, spricht Bände. Die Kommission wurde schließlich zur Triebkraft und zum Exekutivorgan aller Entscheidungen der europäischen Staats- und Regierungs­chefs seit 1989, die zur Gründung der Europäischen Währungsunion führten. Sie geschah im gleichen historischen Augenblick, als das Sowjetsystem vor den Augen der Welt zusammenbrach.

Die Entscheidung für die Währungsunion basierte auf dem westlichen Hochgefühl über den Sieg im Kalten Krieg, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, daß hier soeben ein hochzentralisiertes ökonomisches und ideologisch-politisches Lenkungssystem zusammengebrochen war und Anlaß genug bestand, dies als Warnung vor jedem Versuch zu verstehen, einen ähnlichen Weg einzuschlagen. Statt dessen stand den Erfindern und Interessenten der Währungsunion das Modell eines optimalen Sozial- und Wohlfahrtsstaates vor Augen, der nun in ganz Europa aufgebaut und durch die gemeinsame Währung stabil und unumkehrbar gemacht werden sollte, ungeachtet aller gravierenden Unterschiede der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Wettbewerbskraft, ihrer Steuer-, Sozial-, Fiskal- und Bildungssysteme.

Nach dem Ehrgeiz der politischen Klassen sollte die Europäische Union bis 2020 zur zweiten industriellen Weltmacht neben den USA und der Euro zur Weltreservewährung neben dem Dollar aufrücken. Selbst das Risiko scheute man nicht, diesen Plan mit dem Auftürmen babylonischer Schuldentürme, koste es, was es wolle, durchzudrücken. Die Währungsunion wurde zu einem Unternehmen der Hybris und Unvernunft. Ihr Zusammenbruch war vorauszusehen. Er erschüttert nun die politische Union selbst, und nicht wenige erkennen darin den Beginn ihres Niedergangs. Im Zusammenhang mit der finanzpolitischen Krise vollzieht sich ein einschneidender Paradigmenwechsel der politischen Ordnung. Regierungen und Parlamente in den USA und in Europa sind in die Abhängigkeit der internationalen Finanzmächte geraten, ohne deren Mitwirkung der Auf- und Ausbau der Währungsunion nicht möglich war. Seit den achtziger Jahren begann im Zeichen der amerikanischen new economy der Aufstieg der internationalen Finanzmächte zu Kommandohöhen politischer Entscheidungen. Umgekehrt wurden Regierungen und Parlamente mehr und mehr zu Notaren, die die bereits getroffenen Entscheidungen anonymer Oligarchien abzusegnen, demokratisch zu legitimieren haben.

Mit dieser neuen Verfassungswirklichkeit geht ein politisch-ideologischer Gleichschaltungsprozeß Hand in Hand, der von einer informellen Allianz aus „Chicagoboys und Jakobinern“ (Harald Seubert) getragen wird. Diese Allianz zwischen finanzkapitalistischer Börsen- und linksliberaler Medienmacht dominiert auch den bundesrepublikanischen Politikbetrieb und überläßt als eine Art ideologisch-politische Superstruktur den herkömmlichen Parteien und Parteienbündnissen die Pflege der heutigen Fassadendemokratie.

Die Brüsseler Kommission hat dann mehrfach auch Beispiele geliefert, wie diese neuartige politisch-ideologische Allianz funktioniert. Im Jahr 2000 richtete sich ihr „Wächteramt“ gegen die damalige österreichische Mitte-Rechts-Regierung Schüssel/Haider mit dem Vorwurf, sie vertrete Tendenzen des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit. Die Wiener Regierung mußte als eine Art Kaution die Einrichtung einer „Europäischen Stelle“ zur Beobachtung dieser Verstöße gegen die „europäischen Werte“ zugestehen, faktisch einer „Denunziationsbehörde“ (Peter Maier-Bergfeld). Einen weiteren Beleg dieses politisch-ideologischen Konfessionalismus lieferte die Kommission mit dem Vorgehen gegen die nationalkonservative ungarische Regierung Viktor Orbáns, die ebenfalls auf den rechten Weg der europäischen Werte zurückgeführt werden soll.

Die Neigung der Brüsseler Funktionseliten, die linke Mitte als die Normal- und Idealform der Demokratie zu verstehen, zeigt sich auch auf zahlreichen europäischen Politikfeldern der Gegenwart, zum Beispiel in der steten Parteinahme der Kommission für den Multikulturalismus in der Europäischen Union mit den entsprechenden Folgerungen für die Einwanderungspolitik, die modernen „humanen“ Werten entsprechen muß, auch wenn sie sich gegen vitale Interessen der einheimischen Bevölkerung richtet. Die Kommission hat sich auch eine fortschrittliche Antidiskriminierungs- und feministische Gleichstellungspolitik zum Anliegen erkoren.

Die Bewältigung der Krise muß in der Entscheidung zu einem grundlegenden Umbau der EU, in ihrer Reform an Haupt und Gliedern münden. Der britische Europaminister David Lidington hat in der FAZ die Richtung dieses Umbaus umrissen. Es gelte, die Institutionen der EU und ihre Kompetenzen und nicht zuletzt die der Europäischen Kommission kritisch zu überprüfen und anstelle der Rigidität eines monolithischen Blocks ein flexibles Netzwerk zu schaffen. Und dazu gehört gewiß auch die kritische Überprüfung des Krisenzentrums, der Währungsunion. Welche Vorteile hatte einst ihr Vorläufer, die EWS, die „Europäische Währungsschlange“ mit ihrer Möglichkeit der Ab- und Aufwertung der Währungen im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer geboten!

Die Entscheidung der europäischen Nomenklatura, kurz nach dem Scheitern des hochzentralistischen Sowjetsystems mit der Gründung der Währungsunion einen gleichen Weg einzuschlagen, der die Nationen einebnet und den sie abermals unter Mißachtung ökonomischer und finanzwirtschaftlicher Grundgesetze und mit um so größerem politisch-ideologischem Eifer verfolgte, führte in die tiefste Krise Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt muß es darum gehen, daß die Bürger und Wähler in Europa die Gelegenheit erhalten, ihre Entfremdung als bloße Produzenten und Konsumenten im Dienst der Finanzmächte zu überwinden und so die Wege zu öffnen, auf denen die Blockaden gelöst werden können und dem alten Kontinent wieder eine Zukunft der schöpferischen Freiheit möglich wird.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung, Jahrgang 1927, lehrte bis 1992 Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die schleichende Transformation der EU zur Transferunion („Süßes Gift“, JF 14/12).

Foto: Eurosklerose war gestern: Wie einst die zerfallende Sowjetunion wird die EU von politischer Gicht, Bürokratismus, Zentralismus und Überschuldung geplagt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen