© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

CD: Ministry
Der alte Zorn ist zurück
Nils Wegner

Wenn man mit der Vita Alain David Jourgensens, Kopf von Ministry, der Chicagoer Pionierband des Industrial Metal, vertraut ist, kann es einem angesichts des brandneuen Albums angst und bange werden. Das ist mit „Relapse“, zu deutsch „Rückfall“, betitelt und läßt angesichts der injektionsnadelgespickten Vergangenheit Jourgensens nichts Gutes erwarten – schon zweimal mußte der Sänger aufgrund von Heroinüberdosen durch Rettungssanitäter aus dem Jenseits zurückgeholt werden, und aufgrund eines entzündeten Einstichs mußte ihm ein Zeh amputiert werden.

Doch darf man durchatmen: Mit dem Titel scheint weniger Jourgensens zwanzigjährige Drogenabhängigkeit, für die er zuletzt sogar seine Gitarren verkauft hatte, gemeint zu sein. Stattdessen hat er zurück zu seinen politischen Attitüden gefunden, insbesondere der wütenden Agitation gegen die US-Republikaner, die ihn zuletzt das auf den damaligen Präsidenten George W. Bush gemünzte Album „The Last Sucker“ veröffentlichen ließ.

„Ghouldiggers“ eröffnet das neue Album mit einem langgezogenen Intro, das die kannibalistische Seite der Musikindustrie beschreibt, in der selbst noch aus verstorbenen Musikern soviel Kapital wie möglich geschlagen wird. Mit dem Aufschrei Jourgensens „I’m not dead yet!“ beginnt dann das für Ministry typische Gitarrengeschredder, und der alte Zorn ist zurück. Leider zieht ein eingespieltes Telefonat Jourgensens mit seiner Plattenfirma das Lied unnötig in die Länge. Daß sich das folgende „Double Tap“ auf die Tötung Osama bin Ladens bezieht, geht aus dem Text klar hervor – der Sinn erschließt sich aber erst dann, wenn man weiß, daß mit dem Titel zwei Schüsse in direkter Folge auf dasselbe Ziel bezeichnet werden.

„Freefall“ ist dann das erste Lied, mit dem sich Jourgensen auf seine Drogenvergangenheit bezieht. Er schildert hier die Sicht eines Abhängigen, der sich aus Verzweiflung über die Gleichgültigkeit seiner Umwelt dem Rausch hingibt und keinen Grund mehr sieht, damit aufzuhören. Mit dem programmatischen „Kleptocracy“ geht es wieder gegen die US-Regierung, den Kapitalismus und die Habgier. Weiter geht es mit „United Forces“, einem Cover der Spaßband Stormtroopers of Death. Hier zeigt sich die Konsequenz daraus, ein Lied auf mehr als die doppelte Laufzeit der Ursprungsversion auszudehnen – es ist schlichtweg langweilig.

Mit „99 Percenters“ reiht Jourgensen sich dann auch noch bei der Occupy-Bewegung ein, was zur Zeit bei Musikern, die an sich selbst den Anspruch der Dissidenz haben, unwahrscheinlich populär ist; dennoch steht es einem bald 54jährigen Ex-Junkie nicht besonders gut zu Gesicht. „Weekend Warrior“ nimmt den üblichen Arbeitnehmerrhythmus – unter der Woche schuften, wochenends die Sau rauslassen – auf die Schippe. „Git Up Get Out ’n Vote“ steht vor dem Hintergrund der US-Präsidentschaftswahl im November und will helfen, die abschließende „Bloodlust“ des Systems von der Macht fernzuhalten …

Ja, Ministry sind wieder da. Allerdings: Musikalische Pioniere waren sie einmal, und Politphilippiken locken niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Ein würdiger Abgang ist „Relapse“ nicht – vielleicht aber gerade erfolgreich genug, um einen ebensolchen zu finanzieren.

Ministry, Relapse Afm Records (Soulfood), 2012 www.afm-records.de

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