© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/12 21. September 2012

Berüchtigtes Tor zum Orient
Frankreich: Monatelange Bandenkriege sind in der Migrantenhochburg Marseille nur schwer einzudämmen
Norbert Breuer-Pyroth

Schon seit Monaten erschüttern Bandenkriege die südfranzösische Hafenstadt Marseille, Frankreichs zweitgrößte und älteste Stadt. 19 Menschen fielen seit Jahresbeginn Abrechnungen im Drogenmilieu zum Opfer. Auf dem Boulevard Casanova wurde dieser Tage an einer roten Ampel der 19jährige Drogendealer Walid M. mit einer Kalaschnikow förmlich hingerichtet; die Polizei fand 30 Patronenhülsen am Tatort.

Paris zeigt sich alarmiert und ergreift die Initiative. Politiker eilen medienwirksam vor Ort, denn Marseille – um 600 v. Chr. als Massalia von Griechen gegründet – soll 2013 schließlich als „Kulturhauptstadt Europas“ brillieren, beileibe nicht als Neu-Chicago.

Regierungschef Jean-Marc Ayrault wird den Polizeiapparat geschwind um 205 Beamte aufstocken, womit man jedoch bloß zum Niveau des Jahres 2006 zurückkehrt. Seit seinem Amtsantritt hatte der vormalige Präsident Sarkozy nämlich 350 Beamte von dort abgezogen. Unterdessen verzeichnete Marseille aber einen Einwohnerzuwachs von 40.000 und liegt derzeit bei 900.000.

Ab kommendem Jahr sollen überdies bestimmte Stadtteile der Stadt zu „prioritären Sicherheitszonen“ erklärt werden. Und eine eigene Polizeipräfektur soll fortan für das gesamte 13. Departement Bouches-du-Rhône zuständig sein.

Polizisten und Politiker scheinen hoffnungslos überfordert, wozu denn auch paßt, daß eine Tageszeitung höhnte, „die Rolle der Marseiller Polizei bestehe wohl darin, die auf den Straßen liegenden Erschossenen zu zählen“.

Marseille genießt von jeher den Ruf einer Ganovenhochburg. Nicht umsonst siedelte Georges Simenon seinen „Kommissar Maigret“ zuallererst dort an, bevor dieser dann für immer in Paris residierte. Gangsterstreifen wie „Borsalino“ (mit Alain Delon und Jean-Paul Belmondo) und „French Connection II“ wählten mit gutem Grund Marseille als Bühne.

Die Realität ähnelt der Fiktion zuweilen schauerlich. Rückblende: Der algerischstämmige Marseiller Bandenchef Farid Berrhama, genannt „der Röster“, ließ seine Rivalen nicht nur töten, sondern zündete anschließend gerne ihre Wagen an, um sie darin verkohlen zu lassen. Der Volksmund nannte das „Barbecue“.

An die 30 Morde werden Berrhama zugeschrieben. Darunter 2006 jener an dem mächtigen korsischen Paten Roch Colombani, der in Marseille in seinem Jeep mit 60 Schüssen aus einer Kalaschnikow durchsiebt worden war. Just am Tage seiner Bestattung bezahlte „der Röster“ dafür selbst mit dem Leben – das Ende des Fußballspiels, dem er via Fernseher gerade beiwohnte, erlebte er nicht mehr; und seine beiden „Leutnants“ auch nicht.

Der für öffentliche Sicherheit zuständige Präfekt Alain Gardère tat via RTL kund, Marseille sei eine „eher friedliche Stadt“, außerdem habe man nach Paris die meisten Polizisten (2.932), das reiche. Was er unterschlug: Marseille hat mehr als doppelt soviel Fläche wie die Kapitale, und die sozialen Brennpunkte liegen nicht wie dort in Außenbezirken, sondern inmitten der Stadt, in welcher viele Straßen so afrikanisch anmuten, daß man sich unwillkürlich nach Marrakesch oder Libreville (Gabun) versetzt fühlt.

Im Internet ergoß sich denn auch prompt hämischer Spott über Monsieur Gardère, und zwar dergestalt, daß Marseille tatsächlich eine friedvolle Stadt sei, allerdings bloß im Vergleich zu Bagdad.

Bezirksbürgermeisterin Samia Ghali sah die Sache ebenfalls anders als ihr Präfekt und forderte gar den Einsatz von Soldaten in Marseille. Staatspräsident François Hollande erteilte dem Ansinnen seiner Parteikollegin freilich postwendend eine unmißverständliche Absage.

Im „Tor zum Orient“, wie Marseille auch genannt wird, ist vor allem die Immigration aus Nordafrika augenfällig. Signifikant: War vordem seit Epochen der auf einen über Germanenstämme siegreichen römischen Konsul oder das Meer zurückzuführende Name Marius der gebräuchlichste männliche Taufnahme, so ist es seit wenigen Jahren Mohammed.

Die Heimat des Fußballers Zinédine Zidane ist mit 200.000 Muslimen längst das Zentrum des Islams in Frankreich. Ein Großmufti hat dort gar seinen Sitz. Dieser, Soheib Bencheikh (52), aus Saudi-Arabien gebürtig, gilt als glühender Verfechter der Pressefreiheit sowie der Trennung von Staat und Kirche. 2007 versuchte er an den französischen Präsidentschaftswahlen teilzunehmen, verfehlte aber die nötige Unterschriftenzahl. 2012 empfahl er dann zu aller Überraschung, den rechten Front National zu wählen, obschon dieser gegen den Islam wettert. „Er stimme zwar nicht mit ihnen überein, aber immerhin seien sie ehrlich“, erklärte er zur Überraschung vieler.

Doch die französische Polizei wird das Problem kaum lösen, zumal sie seit langem der Beschäftigung nachgehen muß, Autofahrer danach zu befragen, ob sie Alkoholteströhrchen an Bord haben – obgleich diese gegenwärtig in kaum einer Apotheke zu erstehen sind, da die Hersteller meilenweit hinter dem Plan liegen. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht in manchen Stadtteilen 50 Prozent. Desperate Halbstarke, besonders aus Einwandererfamilien, erliegen der Versuchung, ihre chronisch leeren Geldbeutel durch Handlangerdienste im Geschäft mit Kokain und Cannabis aufzufüllen. Dies einmal geschafft, sind Kalaschnikows für wenige 100 Euro wohlfeil.

Foto: Wohnblocks im nördlichen Zentrum von Marseille: Kaum Unterschiede zu Marrakesch oder Libreville

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