© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Der Flaneur
Barrierefreier Zugang
Ellen Kositza

Eine Mutter und eine Tochter hetzen durch die Unterführung, die die Gleise des kleinstädtischen Bahnhofs verbindet. Das Bauwerk trägt DDR-Charme, mindestens. Die gekachelten Wände hier unten sind von Schülern verziert worden, natürlich legal. Sicher wollte man die triste Passage aufwerten und wenigstens durch ansprechende Optik über den unterführungstypischen Uringeruch hinweghelfen.

Fröhlich-bunte Bilder wurden gemalt, ein „Herzlich Willkommen in Merseburg!“ nimmt die Mutter wahr. Daneben fliegen ihre Augen über Fremdsprachiges. Ist ja logisch: Selbst in der Provinz, die aufgrund ihrer Provinzialität selten Herberge oder Besuchsort weitgereister Gäste ist, gibt man sich weltoffen. Könnte ja ein fremdländischer Gast diesen Weg nehmen und sich nicht willkommen geheißen fühlen! Mutter und Tochter haben es sehr eilig; schaffen sie den angepeilten Zug?

Die Mutter läßt es sich dennoch nicht nehmen, im Laufschritt ein wenig über die bemühten Grußformeln zu spotten. Aberwitzig, diese Sehnsucht nach Internationalität! Dieser Wunsch nach weltstädtischem Flair! Die Tochter sagt nichts, sprintet die Treppe hoch und sieht den Zug abfahren. Ärgerlich! „Mama“, sagt sie, kaum bei Atem, „du hast doch mal Germanistik studiert? Dann müßtest du das da unten eigentlich übersetzen können.“

Die beiden haben nun Zeit. Die Jüngere zieht die Germanistin zurück in die Unterführung. Die erklärt, daß sie sich schon denken könne, daß auf den Wänden „Herzlich willkommen“ in zigfacher Übersetzung stünde, daß ihr dazu das Deutschstudium aber nicht hilfreich sei. Mutter und Tochter stehen nun wieder vor der Wandmalerei. Die Tochter: „Ich les dir vor: bên zi bêna, bluot zi bluoda, lid zi geliden … Dämmert’s?“ Die Mutter errötet. „Merseburger Zaubersprüche?“ „Genau.“ Die Mutter schämt sich ein wenig ihrer Häme. Die althochdeutsche Unterführung wurde Tage später geschlossen. Der Merseburger Bahnhof erhält einen barrierefreien Zugang.

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