© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Spionage mit der Staatsflagge
Das geheime und erfolgreiche Wirken der westalliierten Militärmissionen in der DDR
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges richteten die vier Besatzungsmächte in jeder ihrer Zonen Militärverbindungsmissionen (MVM) ein. Dienten sie anfangs der gegenseitigen Kontaktpflege, so wurden mit Ausbruch des Kalten Krieges, besonders der Berlin-Blockade 1948/49, die westalliierten Missionen in Potsdam mit der allumfassenden Aufklärung der militärischen Lage in der Ostzone betraut.

Ihre Angehörigen trugen ihre jeweilige Militäruniform – wie auch die Sowjets in den drei Westzonen –, waren unbewaffnet und ihre Fahrzeuge mit ihrer Staatsflagge gekennzeichnet. Die westalliierten Autos mit Viererrad-Antrieb und einer Geschwindigkeit bis zu 200 Kilometer pro Stunde sowie ihre Ferngläser und Kameras waren immer auf dem neuesten Stand der (westlichen) Technik. Ihre abkommensmäßig erlaubten Fahrten beliefen sich bei den „Potsdamern“ auf jährlich etwa 3.000 Kilometer.

Nach Stasi-Unterlagen waren sie über sowjetische Truppentransporte aus dem Osten oftmals schneller informiert als die NVA-Führung. Die Militärführungen in Washington, London und Paris wollten von den MVM nicht nur Informationen über neue Waffen, sondern auch genaue Einzelheiten, etwa über den Turm der einzelnen Panzertypen und deren Verwundbarkeit. Noch wichtiger war alles über die Sperrgebiete, deren Betreten strengstens verboten war. Zumeist nachts gelang es den Missionen trotz scharfer Bewachung keineswegs selten, Raketen vom Typ SS-21 und SA-6 sowie die neuen Panzer T-64 und T-80 ausfindig zu machen.

Auch die geheimen Scud-B-Raketen, deren Standorte nicht einmal der DDR-Führung bekannt waren, konnten fotografiert werden. Noch heute erhalten selbst überprüfte Außenseiter nur teilweise Einblick in Unterlagen; bekannt ist, daß die US-Mission in einem Jahr fast 195.000 Fotos und weitere 490.000 Infrarotaufnahmen von sowjetischen Waffen machte und viele dabei aus einer Entfernung von fünf bis zehn Metern! Die Zahl der von den Briten in all den Jahren geschossenen Bildern beläuft sich auf genau 343.386.

Bei ihren Fahrten wurden 1961 zwar die vielen Materialzufuhren nach Berlin registriert, doch daß diese zum Bau der Mauer verwendet würden, ahnte man nicht. Die bevorstehende Okkupation der CSSR beim „Prager Frühling“ stellten die Missionen sehr schnell fest: Etliche Sowjetkasernen in der DDR waren plötzlich leer, und die Truppentransporte in Richtung Süden konnten leicht analysiert werden. Etliche Erkenntnisse brachten auch die „Kameradschafts“-Besuche von MVM-Offizieren in Lazaretten, wo Verwundete aus dem Afghanistankrieg behandelt wurden. Die Blumengeschenke machten viele von ihnen recht redselig.

Die großen Schwächen der Sowjetarmee waren ihre Schlamperei und trotz aller Haßpropaganda gegen alles Westliche ihre allzu häufige Sorglosigkeit: In einem Buch eines MVM-Mitglieds heißt es, „eine der aufsehenerregendsten Quellen von Material stellte das systematische Absuchen und das tatsächlich wörtlich zu verstehende Ausmisten von Müllkippen in der Nähe sowjetischer Militäranlagen dar“, sie waren „eine Fundgrube für nützliche Informationen“. Überaus häufig baten Soldaten der MVM ihre sowjetischen „Kameraden“ um das Aufsuchen einer Toilette in den Kasernen: Der ständige Mangel an echtem Toilettenpapier führte dazu, daß nicht nur Privatbriefe aus Rußland und schriftliche Truppenbefehle, sondern auch Konstruktionspläne von Militärtechnik und sogar Dokumente mit teilweise höchster Geheimstufe in ihren Besitz kamen. Dem MfS zufolge hatten Offiziere der Missionen häufig den Auftrag, elektronische Aufklärungsmittel in der Umgebung geheimer Umgebung geheimer Projekte der Sowjetarmee anzulegen. Nach Abschluß von Manövern konnte man oft zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände wie funktionsfähige Anti-Panzerabwehrminen oder neueste Gasmasken finden.

Um ihren Verfolgern zu entgehen, schliefen die MVM-Teams in der Regel in ihren Autos und versteckten sich in Kornfeldern und Wäldern. Denn trotz ihrer Reisefreiheit wurden ihre Fahrten auch außerhalb der Sperrgebiete fast vollständig behindert, sei es durch deren Blockierung oder sogar die Verhaftung der Besatzung. In zahllosen Fällen wurden sie beschossen, noch heute leiden manche Offiziere und Soldaten an schweren Verwundungen. Anfang 1984 zerquetschte ein NVA-Lastkraftwagen unter Stasi-Kommando vorsätzlich ein Fahrzeug der französischen Mission; der Fahrer starb sofort, die anderen Insassen wurden schwer verletzt. Genau ein Jahr danach wurde Major Arthur Nicholson von der US-Gruppe, als er ebenfalls außerhalb des Sperrgebietes das Innere eines Panzers der Roten Armee fotografierte, ohne Warnung von einem Sowjetsoldaten erschossen.

Nach 1989 werteten führende Militärs in Washington und London die MVM als „die glaubwürdigste und zuverlässigste Quelle für Warnungen“ vor einem sowjetischen Überraschungs-angriff gegen Westeuropa und als „die meistgeschätzte Informationsquelle zur Sowjetarmee auf dem Territorium der DDR“. Zu bundesdeutschen Stellen gab es keinerlei Kontakte. DDR-Bewohner sahen manche dieser Fahrten, doch nur wenige dürften deren Zweck durchschaut haben. So kommt es, daß bis heute in Deutschland diese Militärverbindungsmissionen weitgehend unbekannt geblieben sind.

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