© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Stahlhart für Preußen
Vor 150 Jahren wurde Otto von Bismarck preußischer Ministerpräsident
Guntram Schulze-Wegener

Periculum in mora. Dépêchez-vous“. Dieses beherzte „Gefahr im Verzug. Beeilen Sie sich!“, das Kriegsminister Albrecht von Roon am 18. September 1862 dem bereits in Berlin weilenden designierten preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck telegrafierte, ist als geflügeltes Wort in die Geschichte eingegangen: Einer zähen Legende zufolge hievte der knorrige Kriegsminister damit den Pariser Gesandten, mit dem er seit drei Jahrzehnten bekannt war, auf den einflußreichsten Posten an der Spree. Doch der Ruf „Periculum in mora. Dépêchez-vous“ war abgesprochen und Bismarcks Ernennung zum Ministerpräsidenten schon seit längerem beschlossene Sache.

Gleichwohl erfolgte sein Wechsel von Paris nach Berlin, den Roon gegenüber König Wilhelm nach Kräften gefördert hatte, in einer Phase höchster staatlicher Anspannung. Was war geschehen? Keine 24 Stunden vor Roons vermeintlichem Hilferuf hatte der Monarch seinem Ministerium gedroht, er werde abdanken, wenn ihm seine Minister in der alles entscheidenden Frage der dreijährigen Militärzeit im Parlament die Treue versagen und der Opposition um Linksliberale und Forschrittspartei den Zuschlag geben würden. Vorsorglich war seine Abdankungsurkunde bereits ausgestellt. An dieser vergleichsweise läppischen Entscheidung über die Dauer der Dienstpflicht mußte sich also erweisen, wer in Preußen eigentlich herrschte: die oppositionelle parlamentarische Mehrheit oder die Krone. 1862 drohte der Sturz des monarchischen Prinzips durch Unterwerfung des Königshauses unter eine überwiegend liberaldemokratische Volksvertretung. Roons Heeresreform hatte dafür den Anstoß gegeben.

Der seit 1859 amtierende Kriegsminister folgte mit seiner Reorganisation der Armee durch gezielte Nachrüstung dem für Preußen lebensnotwendigen Motto, die Stärken zu stärken, die Schwächen zu schwächen und dem potentiellen Gegner dadurch stets einen Schritt voraus zu sein.

Es entsprach dabei den Mentalitäten der Zeit, in einer schlagkräftigen Kriegsmacht die Vorbedingung für Deutschlands Einheit und Größe mit Preußen in der Führungsrolle zu sehen – einer Kriegsmacht, die seit dem Neubeginn 1807 (Tilsiter Frieden) bzw. 1813 (Befreiungskriege) keine schubweise, sondern eine kontinuierliche qualitative und in jeder Hinsicht innovative Steigerung erfahren hatte. Das Parlament fürchtete durch die Reform indes die Umstrukturierung des Heeres im monarchisch-autokratischen Sinn und damit die faktische Zerstörung des in der bürgerlichen Landwehr verkörperten „Volkes in Waffen“.

Im Februar 1860 hatte Roon dem Abgeordnetenhaus eine neue Militärvorlage präsentiert: allgemeine achtjährige statt der bisher fünfjährigen Dienstpflicht in der Linie, dreijährige Dienstpflicht bei allen anderen Truppenteilen, Aushebung von 63.000 statt der bisherigen 40.000 Rekruten, Verwendung der als unsicher geltenden Landwehr des Ersten Aufgebots nur noch in der Etappe und dem Festungswesen (also als Reserve) und erhebliche Verstärkungen des aktiven Heeres. Über die zu erwartenden hohen Kosten und den Widerstand des Parlamentes gegen die dreijährige Wehrpflicht brach der Konflikt schließlich offen aus.

Jetzt schlug die Stunde Bismarcks, dessen Ernennung am 22. September 1862 zum Staatsminister und Interimsvorsitzenden des Staatsministeriums zunächst aber nichts Gutes verhieß. Denn für den Moment bedeutete sein Erscheinen auf der Berliner Bühne eine zusätzliche Belastung im ohnehin zum Zerreißen gespannten Verhältnis zwischen Thron und Parlament, das tags darauf die Kosten aus dem Militäretat der laufenden Session kurzerhand strich und damit den Bestand der Armee für nichtig erklärte – ein Zustand, den die Verfassung so nicht vorsah! Bismarck antwortete mit seiner berühmt-berüchtigten „Eisen und Blut“-Rede („Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden … sondern durch Eisen und Blut“), die auch im eigenen Lager für erhebliche Irritationen sorgte. Immerhin aber sandte er deutliche Signale an die Opposition aus, wer ihr künftig gegenüberstehen würde.

Preußen war die einzige Idee, an der sich Bismarcks Handeln orientierte. Auf dem europäischen Schachbrett sollte er 28 Jahre lang Moral durch Zweckmäßigkeit ersetzen, Kombinationen entwerfen und verwerfen, ganz so, wie er sie für sich und Preußen und dann Deutschland für vorteilhaft erachtete. Kein anderer jener Ära verstand es besser als Bismarck, Geheimdiplomatie so elegant mit klassischer Kabinettspolitik zu verbinden und den Belangen seines Königs nutzbar zu machen.

Vom Tag seiner Berufung an standen für den ehemaligen Landjunker die Etappen seiner Politik fest: Erringung von Preußens Hegemonie in Europa, und wenn diese erreicht war, in politischer Konsequenz der Ausgleich mit den liberaldemokratischen Parteien. Bismarck entwickelte sich zur kaltblütig-entschlossenen Führerfigur, die im richtigen Augenblick zurückhaltendes Taktieren mit brutalem Hinlangen vertauschte. Daß die Reichseinigung letztlich in drei Kriegen besiegelt wurde und nicht mittels Verständigungsnoten der europäischen Spitzendiplomatie, beweist zum einen den stahlharten Willen Bismarcks, die Wendemarken preußischer Geschichte nötigenfalls mit Blut zu erkämpfen, andererseits aber auch, daß selbst das fortgeschrittene 19. Jahrhundert sich noch ungeniert der Mittel althergebrachter Machtpolitik bediente.

Auf dem Weg dorthin war für Bismarck jede Opposition, die er als Untreue gegenüber dem gottgegebenen preußischen Königtum verstand, das reinste Gift. Der neue Ministerpräsident sah dessen Existenz 1862 gefährdet und setzte daher unter Umgehung der Verfassung, die für diesen Fall keine Regelungen vorsah, den Etat ohne die Zustimmung der Abgeordneten fest! Fortan verharrten beide Lager in einer Art „Stellungskrieg“, wobei der Krone als Exekutive und Staatsmacht nach Bismarcks Interpretation die letztliche Entscheidungsbefugnis zukommen mußte. Außenpolitische Ereignisse und sein taktisches Geschick sollten das Problem schließlich zugunsten der Monarchie lösen.

Die erfolgreichen Kriege gegen Dänemark (1864) und Österreich (1866) zogen innenpolitische Gegner auf die Seite der Regierung, die dem Parlament die nachträgliche Legalisierung des Haushaltes anbot („Indemnität“). Lohn für dieses Entgegenkommen war der auch von der Opposition ersehnte deutsche Nationalstaat, in dem die königliche bzw. kaiserliche Richtlinienkompetenz nicht mehr in Zweifel stehen sollte.

Foto: Otto von Bismarck (1815–1898): Ungenierter Machtpolitiker

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