© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

„In den Kopf geschossen“
Dokumentarfilm: Philip Scheffners „Revision“ rollt die Tötung zweier illegaler rumänischer Grenzgänger vor zwanzig Jahren wieder auf
Sebastian Hennig

Der Film „Revision“ von Philip Scheffner ringt auf hohem Niveau mit seinem unerfüllbaren Anliegen, das Verfahren um die Tötung zweier illegaler Grenzgänger im Sommer 1992 in Gestalt eines Dokumentarfilms neu aufzurollen. Am 29. Juni besagten Jahres wurden in einem Feld in Mecklenburg-Vorpommern nahe der deutsch-polnischen Grenze die Leichen zweier rumänischer Männer entdeckt. Wie sich herausstellte, hatten zwei Jäger die Männer angeblich mit Wildschweinen verwechselt. Vier Jahre später folgte der Prozeß; er endete mit einem Freispruch.

Die Personen werden gefilmt, wie sie ihrer Erzählung zuhören. Das Sich-nicht-abfinden-Können ist eine westliche Spezialität, die den Familien der Hinterbliebenen fremd ist. Die Witwe sagt: „In den Kopf geschossen, mehr wußten wir nicht. Deswegen sind wir so schockiert, daß jemand nach zwanzig Jahren kommt und einen Film drehen möchte.“ Der Sohn: „Ich werde darüber nicht sprechen.“ Sein Bruder mit müden schweren Lidern hängt neben ihm auf dem Sofa. Da kommt nun einer und verzinst ihr Leiden. Einer der Reisegefährten von damals sagt: „Wenn ich mich an das erinnere, was ich erlebt habe, bekomme ich ungeheure Kopfschmerzen.“

Die Grenzübertreter aus Rumänien legten sich auf den Boden des Gerstenfelds. Zwei von ihnen rutschen auf Knien weiter. Schüsse fällen sie. Ein Projektil durchdringt beide. „Der Kopf wie eine Melone zerschnitten.“ Die anderen springen auf und rufen nach Schonung. Ein Auto verläßt fluchtartig den Tatort. Der einheimische Pächter und sein Jagdgast haben das vermeintliche Wild nicht waidmännisch angesprochen. Die Definition hangelt sich von Wildschweinen über polnische Menschenhändler bis zu illegalen Einwanderern.

Das war der wilde Osten im Jahr 1992. Da gab es reichlich Taten, die nie aufgeklärt wurden. Als der Interviewer die Fassung verliert gegenüber dem Anwalt eines der Jäger wird deutlich, wie gut es ist, daß es Juristen gibt und Dokumentarfilmer, jeder seinem Handwerkszeug verpflichtet.

Die Nachbarn in Alba Iulia erzählen, wie die kinderreiche Witwe die Miete nicht mehr bezahlen konnte und ins Zigeunerviertel zurückgezogen ist, „ins Industriegebiet“, korrigiert die Frau, der Mann insistiert: „Alle nennen es so.“ – Sie: „Früher wurde es so genannt.“

Auch der Referent für Roma-Angelegenheiten der Stadt Craiova hat inzwischen dazugelernt und bezeichnet den getöteten Gefährten sehr umständlich als „Rumänen, der zur Ethnie der Roma gehört“. Auch er war damals in Deutschland und erzählt es wie ein Märchen: „Es war schön in Deutschland, wirklich schön. Auch in Gelbensande. Dabei waren die Gebäude und die Landschaft eigentlich gar nicht so schön.“

Wo Erntearbeiter vor zwanzig Jahren die Getöteten fanden, stehen heute Windräder, deren Schatten über eine Mauer aus Mais streifen.

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