© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Apollo und Dionysos gehören zusammen
Fanatismus und Schöpfertum: Der Dirigent Christian Thielemann bricht eine Lanze für Spinner mit gepflegter Macke
Richard Stoltz

Gutmütige, drollig-verbindliche Sachen hat kürzlich der Dirigent Christian Thielemann in einem Interview mit dem Berliner Hauptstadtmagazin Cicero gesagt. Er habe, verlautbarte er, nicht das geringste gegen „positiven Fanatismus“. Er liebe „Spinner mit gepflegter Macke“ und rechne sich selbst zu dieser Spezies. Jeder, der etwas Gutes und Solides auf die Beine stellen wolle, müsse ein Fanatiker und Spinner sein, nur eben: es müsse alles „gepflegt“ und „gelassen“ vonstatten gehen.

„Ach, wenn er doch recht hätte!“ kann man da nur seufzen. Denn natürlich gehören zum Schöpfertum totaler Einsatz und höchster Eigensinn, der sich durch nichts beirren läßt. Und in ihm waltet, wie der junge Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ höchst einleuchtend dargelegt hat, neben dem „apollinischen“ Sinn für Ordnung und Struktur stets auch der „dionysische“ Sinn des Über-die-Stränge-Schlagens und des Niederreißens und ergriffenen Taumelns. Apollo und Dionysos gehören untrennbar zusammen.

Leider gab und gibt es (heute mehr denn je) in der Kunstwelt auch viele, allzu viele reine Dionysos-Apostel, wüste Fanatiker, versoffene Pseudogenies, Spinner und Mackeninhaber von der unerträglichsten Sorte. Diese Kräfte sind weder zur Gepflegtheit noch zur Gelassenheit à la Thielemann zu bekehren, sie kennen Apollo gar nicht und wollen ihn auch nicht kennenlernen.

Wie sagte der Dirigent in seinem Interview? „Je höher das Niveau ist, desto gelassener kann man miteinander umgehen. In der Musik sind wir an diesem Punkt angekommen, in der Politik vielleicht noch nicht ganz.“ Nun, Thielemanns Wort in Gottes und der Politiker Ohr. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen