© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

Der Stachel der Trennung
Denkanstoß für ein gemeinsames christliches Selbstbewußtsein: Zum Appell „Ökumene jetzt!“
Harald Seubert

Das Papier der Initiative „Ökumene jetzt!“, das von prominenten Laien beider Konfessionen und aus den unterschiedlichen Bereichen von Wissenschaft, Wirtschaft, Sport, Politik unterstützt wird, ist von einem klaren ökumenischen Anliegen inspiriert. Es rekurriert, anhand der äußerlichen Anlässe des 50. Jahrestages des Zweiten Vaticanum und des 500. Reformationsjubiläums – als ein bewußt deutscher Blick – auf das „Ärgernis“ der Teilung, das sowohl in den Bekenntnisschriften der Reformation als auch im Vaticanum selbst eindrücklich sichtbar gemacht wird.

Als Zeugnis eines „Johanneischen Christentums“ (wie dies Schelling und Hans Urs von Balthasar nannten) ist die Erklärung zunächst zu begrüßen, geht es doch offensichtlich darum, das Petrinische, auf Rom und das Papsttum konzentrierte Christentum und das Paulinische, auf das sich Luthers Reformation vor allem berief, in eine neue Einheit zu führen. Indem einer „Versöhnung bei Fortbestehung der Trennung“ die klare Absage erteilt und eine „gelebte Einheit im Bewußtsein historisch gewachsener Vielfalt“ proklamiert wird, wird auch die vor allem seitens des Protestantismus evozierte „versöhnte Verschiedenheit“ in Frage gestellt, der wie der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber nahelegte, zu einer „Ökumene der Profile“ führen sollte.

Aus dem Papier weht der Geist der Gemeinden, ohne freilich vordergründig „basisdemokratische“ Attitüden der „Kirchen von unten“ zu bedienen. Registriert wird in dem Papier auch, daß der ökumenische Prozeß an Dynamik, vor allem aber an Leidenschaft verloren hat. Daß die Formulierungen recht vage bleiben, wird man bei der weitgreifenden Zielsetzung verstehen können. Bundestagspräsident Norbert Lammert begründete dies mit der Zielsetzung eines „offenen Prozesses“. Hier entstehen aber Probleme.

Man wird zudem vermuten können, daß die Einsicht, „daß katholische und evangelische Christen viel mehr verbindet als unterscheidet“, auch aus Sorge angesichts einer Weltlage formuliert ist, in der einerseits Säkularismus, andererseits religiöser Fanatismus immer dominanter werden, obgleich dazu explizit kaum etwas gesagt wird. Und man wird uneingeschränkt der These zustimmen müssen, daß es in dieser Situation um die Ausprägung der gemeinsamen christlichen Physiognomie gehen muß.

Bedauerlicherweise wird dies vielfach, gerade auch im Protestantismus, zuwenig gesehen. Die großartige Möglichkeit, Papst Benedikt XVI. als Sprecher im Namen der ganzen Christenheit anzuerkennen, in den Fragen des Lebensschutzes, aber auch von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und nicht zuletzt der Grundfrage des Verhältnisses von Glaube und Vernunft (fides et ratio) mit seinem Pontifikat in eine epochale Zwiesprache zu gelangen, ist zumeist beckmesserisch ausgeschlagen worden. Es ist oftmals die Furcht vor dem Verlust der Identität einer „Kirche der Freiheit“, aber auch des „Kompromisses“, die etwa in den wesentlichen bioethischen Fragen diesen tieferen Konsens verhindert. Modernisierung ist im Zweifelsfall wichtiger.

Fragen wirft das Papier auf, wenn es den theologischen Klärungsprozeß als eher sekundär abtut. Die gesuchte Einheit wird kaum durch eine Verschleifung von Unterschieden und schon gar nicht durch Suspension der Wahrheitsfrage gefördert werden. Daß sich das Papier über jede theologische und in zweiter Linie auch institutionelle Konkretion ausschweigt, bedarf also der Ergänzung und Korrektur.

Daran zeigt sich, daß es eher politisch und weniger geistlich orientiert ist. Um etwas ins Einzelne zu gehen: Einheit im Bewußtsein historisch gewachsener Vielfalt müßte bedeuten, daß die evangelischen Kirchen von der Kontinuität des Lehramtes, der Kraft der Tradition einer sich entfaltenden Wahrheit lernen können. Dies kann die protestantische Neigung zu Zersplitterung und Zeitgeistkonformität korrigieren. Die Rückkehr zum Bewußtsein der einen Kirche könnte Formlosigkeit, Psychologisierung und eine unbefragte Feier des Pluralismus heilen. Dies würde auch manche wohlgefällige Selbstbespiegelung des „Protestantismus der Moderne“ in Frage stellen und klären, daß das Epitheton „evangelisch“ niemals trennend, sondern verbindend ist.

Umgekehrt kann die Lutherische Lehre von der Rechtfertigung, die Theologia crucis, aber auch Luthers eindrucksvolles Ringen um Gott katholischem Glaubensleben zu einer Blutzufuhr werden. Und es ist unstrittig, wie bereichernd die besten wechselseitigen Traditionen sein können: Die Lieder Paul Gerhardts und die Passionen Johann Sebastian Bachs erschließen auch einem katholischen Christen die Tiefen, Abgründe und Höhen der Gotteserfahrung. Und wieviel kann ein Lutheraner aus den Schriften der Mystiker, oder von den großen christlichen Denkern der Gegenwart, von Romano Guardini oder Edith Stein gewinnen.

Die katholische Soziallehre, um ein anderes Beispiel zu geben, stellt einen Thesaurus zur Verfügung, der für beide Konfessionen verbindlich ist. Umgekehrt bietet etwa die Theologie von Dietrich Bonhoeffer Auslotungen eines Christseins in der Moderne, nach dem von Nietzsche diagnostizierten Tod Gottes und der Gewissenserforschung im Konfliktfall, die die naturrechtlichen Traditionen wesentlich bereichern und ergänzen können. Bonhoeffer selbst lernte von den Mönchen in Ettal. Er kann heute die Untiefen tragischer Schuld lehren, die in keiner Kasuistik aufzufangen ist.

Es ist freilich zuerst der Konsens, genauer der Magnus consensus der christlichen Wahrheit, auf den die Einheit zurückgehen muß und nicht der Kompromiß in einzelnen strittigen Fragen. Kompromisse können in Fragen der Glaubenswahrheit in der Tat nicht nach Mehrheitsentscheidungen und politischen Wetterlagen gefunden werden. Sie setzen die christliche Wahrheit voraus. Der Magnus consensus selbst bestimmt sich nach Schrift und Tradition, nach dem dogmatischen und liturgischen Thesaurus, das sich im ersten nachchristlichen Jahrtausend ausgebildet hat. Er ist in veränderte Zeiten hinein fortzubilden, aber nicht aufzukündigen, und er verbindet nicht nur, wie es von deutscher, im weltweiten Maßstab eher provinzieller Warte aus erscheinen könnte, römisch-katholische und evangelisch-lutherische Christen, sondern weitet sich auch auf die Orthodoxie hin.

Jener Magnus consensus ist faktisch im Petrusamt als Lehramt verankert. Dessen Anerkenntnis, die der große evangelische Theologe Wolfhart Pannenberg schon vor mehr als zwei Jahrzehnten einforderte, wäre daher ein wichtiger Schritt, wobei die evangelischen Kirchen dabei eine eigenständige Verfaßtheit bewahren könnten. Dies könnte tatsächlich eine Befreiung von den schwierigen Erbschaften des Kirchenbeamtentums und des – seinerzeit befriedend wirkenden – „Cuius regio eius religio“-Grundsatzes des Augsburger Religionsfriedens sein: Rückgewinnung einer geistlichen und geistigen Eigenständigkeit.

Man würde dem Papier die größte Ehre antun, wenn man es nicht als Signal zu Aktionismen verstünde, sondern als Denkanstoß zur Schärfung gemeinsamen christlichen Selbstbewußtseins.

 

Prof. Dr. Harald Seubert, Jahrgang 1967, evangelisch-lutherischer Konfession mit tiefgehenden katholischen Prägungen, ist an der Staatsunabhängigen Theologische Hochschule (STH) in Basel Professor für Philosophie und Religionswissenschaften. Darüber hinaus lehrt er Philosophie am Guardini-Lehrstuhl der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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