© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

„Absurdes Theater“
Bundesverfassungsgericht: Nach der Entscheidung der Karlsruher Richter zum ESM hat der Kampf um die Interpretation begonnen
Marcus Schmidt

Als der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, am Mittwoch um Viertel nach Zehn sein Barett aufsetzte, um die Entscheidung zum ESM zu verkünden, begann der Kampf um die Interpretation. Während im Europäischen Parlament Beifall aufbrandete, als der Richterspruch bekannt wurde, fühlte sich der Euro-Kritiker Frank Schäffler (FDP) zumindest teilweise bestätigt. „ESM sind die Zähne gezogen. Haftungssumme, Immunität und Dauerhaftigkeit waren unsere Hauptkritikpunkte“, verkündete der Bundestagsabgeordnete über den Kurznachrichtendienst Twitter.

Auf den ersten Blick ist die Entscheidung der acht Karlsruher Richter dennoch eine Niederlage für die zahlreichen Kläger, darunter der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler und die Professoren Karl Albrecht Schachtschneider, Wilhelm Nölling, Wilhelm Hankel und Bruno Bandulet, die Linksfraktion sowie das von der früheren Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) unterstützte Bündnis „Europa braucht mehr Demokratie“. Gauweiler holte sich sogar eine doppelte Abfuhr, denn auch sein erst am Wochenende eingereichter Eilantrag, mit dem er vom Verfassungsgericht verlangt hatte, die Entscheidung über den ESM so lange auszusetzen, bis die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Ankündigung, unbegrenzt Staatsanleihen von angeschlagenen Euro-Staaten aufzukaufen, zurückgenommen habe, wurde verworfen. Der CSU-Politiker hatte argumentiert, die EZB werde dadurch selbst zum Rettungsschirm ohne parlamentarische Kontrolle. Die Richter ließen zumindest durchblicken, daß sie sich mit der Frage, ob die EZB ihre Kompetenzen überschritten hat, im Zuge der Hauptverhandlung beschäftigen werden.

Auf den zweiten Blick waren die Eilanträge der Kläger gegen den ESM aber dennoch nicht ohne Wirkung, denn das Gericht genehmigte die Ratifikation nur unter Auflagen. Über die Tragweite dieser Einschränkungen, auf die das Gericht die Bundesregierung verpflichtet hat, wird seit Mittwoch heftig diskutiert. So muß die Bundesregierung sicherstellen, daß die Haftung Deutschlands auf 190 Milliarden Euro begrenzt ist. Weitere Einzahlungen in den ESM dürften nur mit Zustimmung des Bundestags erfolgen. Auch sonst muß das Parlament beteiligt werden. Voßkuhle unterstrich in diesem Zusammenhang, daß eine umfassende Unterrichtung von Bundestag und Bundesrat in diesen Fragen immer notwendig sei. Außerdem dürfe die von den ESM-Kritikern beanstandeten Schweigepflicht für alle ESM-Mitarbeiter nicht dazu führen, daß der Bundestag nicht ausreichend unterrichtet werde.

Ausdrücklich stellte das Gericht fest, daß es nicht über die Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit des Rettungspaketes entschieden hat. „Das ist und bleibt Aufgabe der Politik“, sagte Gerichtspräsident Voßkuhle. Aufgabe der Richter sei lediglich, die Verfassungsmäßigkeit der beanstandeten Gesetzte zu überprüfen. „Die Verfassung gilt auch in der Krise und gibt den Rahmen für die Politik vor“, verdeutlichte Voßkuhle.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) wertete das Urteil als Stärkung des Parlamentes. Er sprach von einer „doppelten Klarstellung“ des Bundesverfassungsgerichts. Zum einen habe das Gericht verdeutlicht, daß die vom Bundestag beschlossenen Verträge verfassungskonform sind. Zudem hätten die Richter bestätigt, daß der Bundestag mit seiner Zustimmung zu diesen vertraglichen Vereinbarungen weder seine verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten im Allgemeinen noch seine haushaltsrechtlichen Kompetenzen und seine Budgetverantwortung im Besonderen an europäische Institutionen oder Organe abgetreten habe. Die Klarstellung, daß auch die Regelungen zur Vertraulichkeit von Entscheidungen des ESM nicht als Begrenzung oder Ausschluß der Unterrichtungspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag und parlamentarischer Informations- und Kontrollrechte geltend gemacht werden kann, mache einmal mehr die zentrale Rolle deutlich, die das Grundgesetz dem Bundestag bei politischen Entscheidungsprozessen auch in europäischen Fragen zuweise, sagte Lammert.

Der Eurokritiker und Kläger Wilhelm Hankel wirkte dagegen schon vor dem Urteil einigermaßen ernüchtert. Im Grunde sei es egal, was geurteilt werde, sagte er vor der Verkündung der Entscheidung in Karlsruhe und sprach von einem „absurden Theater“. „Wenn die Notenpressen angeworfen werden, ist ein Staat ohnehin pleite“, sagte er mit Blick auf die Entscheidung der EZB zum unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen. „Ich sehe keine Möglichkeit, daß sich der Euro auf Dauer gegen die Märkte behaupten kann“, lautete das Fazit des Währungsfachmanns.

Foto: Kläger Herta Däubler-Gmelin (SPD), Peter Gauweiler und der Staatsrechtler Dietrich Murswiek: Parlament gestärkt

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