© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/12 14. September 2012

„Auslöschung unserer Erinnerung“
Immer mehr mißliebige historische Straßennamen werden getilgt, jüngster Fall: der Hindenburgplatz in Münster. Solche Umbenennungen sind meist nicht so harmlos, wie es scheint, sondern Teil einer schleichenden Ideologisierung, diagnostiziert der US-Publizist William S. Lind.
Moritz Schwarz

Herr Lind, hat es Paul von Hindenburg verdient, daß sein Name auch weiterhin durch Straßen und Plätze geehrt wird.

Lind: Darum geht es in erster Linie nicht.

Sondern?

Lind: Zunächst einmal geht es darum, die Entscheidung einer früheren Generation zu achten. Der Schloßplatz in Münster – der Fall, um den es aktuell geht – wurde 1927 in Hindenburgplatz umbenannt, weil Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg für die Deutschen seiner Zeit eine große Bedeutung hatte. Das sollte man respektieren.

Allerdings steht er für Werte, die heute als „problematisch“ betrachtet werden.

Lind: So eine Bewertung ist unhistorisch und ungerecht. Die Leute damals waren nicht einfach alle „Rechtsextreme“, sondern sie lebten in einer anderen Zeit und einer anderen Welt. Und tatsächlich haben sie meist Großartiges geleistet, ja sie haben – das sollte man nie vergessen – schließlich erst die Entwicklung unserer heutigen Welt möglich gemacht.

Konkret?

Lind: Sehen Sie sich doch nur einmal die Epoche Hindenburgs an: Er gilt ja als eine Person, typisch für das wilhelminische Kaiserreich. Heute gibt es diese vor allem in Deutschland populäre Tendenz, das Kaiserreich als eine Art Vorstufe zum Dritten Reich Adolf Hitlers zu betrachten. Ich halte diese Deutung für gründlich verfehlt. Denn tatsächlich war es weder eine Diktatur noch ein Unrechtsstaat. Vielmehr war das deutsche Kaiserreich ein ganz normales Land seiner Zeit. Tatsächlich gibt es nichts, was an der wilhelminischen Ära in besonderer Weise falsch gewesen wäre oder wofür man sich als Deutscher schämen müßte. Im Gegenteil, die Deutschen verdanken dem Kaiserreich bis heute sehr viel, denn es legte die Grundlage für ihren industriellen Aufstieg und hob ihren Wohlstand beträchtlich. Und zudem bot es für die damalige Zeit sogar überdurchschnittlich viel an Demokratie: Die Presse war frei, und es gab mit dem Reichstag und den Landtagen überall gewählte Parlamente, die das Budgetrecht innehatten. Das war mehr, als die meisten anderen Staaten dieser Epoche zu bieten hatten. Ja, ich wage sogar die These, daß es besser für die Welt gewesen wäre, wenn Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte. Warum? Nun, weil es bei Fortbestehen des Kaiserreichs wohl keinen Hitler gegeben hätte, und sicher wäre uns auch Stalin erspart geblieben.

Paul von Hindenburg wird allerdings vor allem vorgeworfen, Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt zu haben.

Lind: Zu Recht, aber für diesen in der Tat schweren Fehler von 1933 wurde schließlich nicht 1927 der Platz in Münster nach ihm benannt. Nein, vielmehr hat damals fast jede deutsche Stadt eine Straße oder einen Platz nach Hindenburg genannt, und zwar weil er der Sieger der Schlacht von Tannenberg war, in der die deutsche Armee 1914 die russische Walze stoppte. Und das ist durchaus ein Verdienst, denn es war schon damals kein Spaß, von der russischen Armee überrannt und besetzt zu werden. Es wird heute gerne vergessen, was das für die Deutschen in der davon betroffenen Region tatsächlich bedeutet hätte. Hindenburg war also so etwas wie der Retter des Vaterlandes und dafür waren ihm die Leute zu Recht dankbar. Auch wenn der eigentliche Planer des Tannenberg-Sieges nicht Hindenburg, sondern sein Generalstabsoffizier Max Hoffmann war, der für ihn und Generalstabschef Erich Ludendorff die Operationspläne erarbeitet hatte.

Also gebührt Paul von Hindenburg doch nicht die Ehre?

Lind: Ich sage doch! Und zwar deshalb, weil Hindenburg für die Deutschen von damals das Symbol für diese Rettung war. Er war als verantwortlicher Oberkommandierender in der Schlacht ein legitimer Nationalheld für das damalige Deutschland. Ein Fremdenführer in Tannenberg soll seiner Besuchergruppe einmal gesagt haben: „Und hier sehen Sie den Platz, wo Hindenburg vor der Schlacht geschlafen hat. Und hier den Platz, wo er nach der Schlacht geschlafen hat. Und hier den Platz, wo er während der Schlacht geschlafen hat.“ Spaß beiseite, der Ulk mag von dem Umstand herrühren, daß Hindenburg das Ansinnen, die Operationspläne Hoffmanns abzuändern, abgelehnt haben soll und statt dessen befahl, nun schlafen zu gehen. Damit hatte er die richtige Entscheidung getroffen, um die Schlacht zu gewinnen. Und was Max Hoffmann angeht – ich bin überzeugt, daß er ihnen ganz preußisch geantwortet hätte: „Stabsoffiziere haben keine Namen.“

Aber kann man Hindenburgs spätere Rolle in der Weimarer Republik denn darüber einfach ausblenden?

Lind: Nein, und das tut auch keiner. Aber nehmen Sie etwa zum Beispiel Winston Churchill. Auf sein Konto geht etwa unzweifelhaft die gezielte Tötung zahlloser deutscher Zivilisten, Frauen und Kinder, durch den britischen Bombenkrieg gegen Deutschland. Für die Briten aber hat er ihr Land vor den Deutschen und den Nazis gerettet. Dafür ehren sie ihn bis heute, und das ist, trotz seiner negativen Seiten, legitim. Nun zurück zu Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg: Auch seine Rolle in der Weimarer Republik können Sie nicht einfach nur auf seine verhängnisvolle Fehlentscheidung zur Ernennung Hitlers reduzieren. Als Reichspräsident hat er die Republik lange Zeit auch stabilisiert. Ohne ihn wäre sie vielleicht schon viel früher am Ende gewesen. Und als er schließlich Hitler – für den er übrigens nie Sympathien gehegt hatte – zum Kanzler ernannte, da war er schon ein sehr alter Mann.

Neue Erkenntnisse, etwa des Hindenburg-Biographen Wolfram Pyta, zeigen jedoch, daß Hindenburg keineswegs einfach als senil entschuldigt werden kann.

Lind: Natürlich war Hindenburg kein Demokrat, das ist bekannt. Er war im Herzen Monarchist, und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre die Republik wohl zur Monarchie zurückgekehrt. Und das wäre – wenn Sie einmal überlegen – sogar gar nicht so schlecht gewesen, denn dann hätte Hitler vermutlich ausgespielt gehabt. Tatsächlich hat Hitler nichts mehr gefürchtet als eine Restauration der Monarchie. Wie auch immer, trotz seiner monarchistischen Haltung hat Hindenburg der Republik lange treu gedient – auch wenn er am Ende durch sein Handeln ihren Untergang mitverursacht hat. Tatsächlich werden Sie aber kaum eine Gestalt der Vergangenheit finden, die den Ansprüchen der Gegenwart genügt. Und das ist auch gar nicht nötig.

Warum?

Lind: Weil jeder, der seine Vorfahren nicht ehrt, sich von seiner Geschichte abschneidet. Fast alle großen Kulturen der Weltgeschichte haben sich stets an der Vergangenheit orientiert, haben ihre Vorfahren geradezu verehrt. Nehmen Sie als aktuelles Beispiel etwa uns, die USA. Wenn dagegen die Gegenwart über die Vergangenheit zu Gericht sitzt, dann offenbart das im Grunde den grenzenlos hochmütigen Anspruch zu glauben, daß man klüger ist als sämtliche Generationen vor uns. Eine gefährliche Umkehrung, die nicht umsonst erst mit dem Zeitalter der Ideologie aufkam.

Dem Zeitalter der Ideologie?

Lind: Natürlich, eines der vordringlichsten Ziele einer jeden Ideologie ist es, den Menschen von seinen Bindungen abzutrennen, dazu gehört vor allem auch die Vergangenheit. Denn ohne Bezug zur Vergangenheit, haben die Menschen keine Basis, aufgrund derer sie die Gegenwart beurteilen können. Damit sind sie wie Halme im Wind. Ideologie will totale Kontrolle, nicht nur über unsere Handlungen, auch über unser Denken. Das erreicht sie, wenn sie es uns unmöglich macht, noch eigenständige Werturteile zu treffen. Deshalb zielt sie darauf, uns die Basis dafür zu nehmen. Eine Gesellschaft ohne Bezug zur Vergangenheit ist also wie Wachs in ihren Händen, erfahrungsgemäß ist sie ihr hilflos ausgeliefert.

Die Vorstellung, die Vergangenheit heute nachträglich korrigieren zu wollen, ist also Ausweis ideologischen Denkens?

Lind: Ganz eindeutig, sie ist geradezu symptomatisch dafür. Was man uns dabei glauben machen will, ist, wir würden lediglich richtigstellen, was früher falsch gemacht wurde. Tatsächlich aber geht es um Reprogammierung unserer Erinnerung. Deshalb ist ein Bekenntnis dazu, die Vergangenheit so anzunehmen, wie sie nun mal historisch war, ein Ausweis für Freiheit. Oder, wie der Philosoph Russell Kirk gesagt hat: „Konservatismus ist die Vernichtung von Ideologie.“

Konkret sehen Sie also im Tilgen unliebsamer Straßennamen eine fortschreitende Ideologisierung Deutschlands?

Lind: Der Zusammenhang ist evident. Mit einem einfachen Vergleich kann ich Ihnen den ideologischen Hintergrund der Sache deutlich machen: Hindenburg etwa muß wegen seiner negativen Seiten weichen. Aber was bitte ist mit Martin Luther? Wie im Fall Hindenburgs gibt es fast in jeder deutschen Stadt auch eine Martin-Luther-Straße. Sie wissen sicherlich, was Luther über die Frauen, die Bauern und über die Juden geschrieben hat. Dennoch tut dieser aus heutiger Sicht eklatante Makel der Ehrung Luthers in Deutschland keinerlei Abbruch. Warum aber empfinden die Deutschen bei etwa gleicher Sachlage den Fall Hindenburg als problematisch, den Fall Luther nicht. Die Antwort ist: Wegen ihrer ideologischen Konditionierung. Die Umbenennung von Straßennamen ist Teil von Geschichtspolitik.

Mitunter gibt es aber doch wirklich gute Gründe, eine Straße umzubenennen.

Lind: Natürlich kommt auch das vor, nämlich dann, wenn der heutige nicht der natürliche Name ist, sondern selbst Produkt ideologischer Manipulation. Denken Sie etwa an die vielen Ernst-Thälmann- oder Karl-Marx-Straßen, die es noch heute in der ehemaligen DDR gibt. Sie sind das Ergebnis des ideologischen Diktats eines kommunistischen Zwangsregimes. Das gleiche gilt für die vielen Adolf-Hitler-Straßen in Deutschland bis 1945. Diesen Straßen ihre alten, natürlichen Namen zurückzugeben, ist das gleiche, wie sich in Fällen von gewachsenen Straßennamen gegen eine politisch korrekte Korrektur zu stellen: nämlich das Zurückweisen von Ideologie aus unseren öffentlichen Räumen. Wobei es allerdings auch hier Ausnahmen geben kann.

Nämlich?

Lind: Denken Sie etwa an die „Stalin-allee“ in Ost-Berlin, heute Karl-Marx-Allee. Dort wurde nach 1945 mitten im Zentrum des Ostteils der deutschen Hauptstadt ein komplett neuer Stadtteil aus dem Boden gestampft – nach eigenem Verständnis eine kommunistische Musterstadt im stalinistischen Stil. Vom alten Berlin ist an dieser Stelle nichts mehr übrig. Es handelt sich also quasi um ein neues geschlossenes historisches Ensemble. Dazu gehört auch der damals gewählte neue Name der Straße. Ich sehe wenig Sinn darin, nun die Straße wieder, wie vor dem Krieg, in „Große Frankfurter Allee“ umzubenennen, da von dieser nichts mehr da ist. Im Gegenteil, um der historischen Kontinuität dieser Gegend willen, wie sie sich nach 1945 entwickelt hat, würde ich sogar für eine Rückbenennung der Straße in „Stalinallee“ votieren, statt nur Karl-Marx-Allee, wie sie nach der Entstalinisierung 1961 genannt wurde – auch um die Schrecken Stalins leichter vergessen zu machen.

Dieser Logik folgend müßten Straßen an Baukomplexen aus der Zeit des Nationalsozialismus eventuell wieder „Adolf-Hitler-Straße“ heißen?

Lind: Möglicherweise ja, was aber nicht möglich ist, da so ein Unterfangen in Deutschland heute strafbar ist. Ansonsten sage ich, in so einem Fall sollten die Bürger des betroffenen Ortes das am besten selbst entscheiden.

Was meinen Sie eigentlich mit „natürlichen Staßennamen“?

Lind: Jede historische Straße hatte ursprünglich einen „organischen“ Namen, die Hauptstraße etwa war die zentrale Straße, in der Tuchgasse waren die Tuchhändler ansässig, die Mühlenstraße führte zu einer Mühle, und die Neue Straße war eben die damals neu gebaute Straße. In der nächsten Stufe begann die Bürgerschaft Personen, die sie besonders verehrte, mit Straßennamen zu ehren. So wurde vielleicht aus dem Marktplatz der Goetheplatz oder in Münster 1927 aus dem Schloßplatz der Hindenburgplatz. Diese Aneignung des öffentlichen Raums durch die aufstrebende Bürgerschaft ist ein Ausweis für die sich damals entwickelnde Zivilgesellschaft und die mit ihr einhergehende Erstarkung des demokratischen Elementes. Und sie sollte deshalb auch als solche respektiert und anerkannt werden.

 

William S. Lind, der amerikanische Militärhistoriker publizierte zahlreiche Bücher und Zeitungsbeiträge, unter anderem in der Washington Post, New York Times, Los Angeles Times oder der Zeitschrift des US-Marinekorps, der Marine Corps Gazette. Im Monatsmagazin The American Conservative hat er eine regelmäßige Kolumne. Der Publizist, Jahrgang 1947, studierte an den US-Eliteuniversitäten Dartmouth College und Princeton und ist Verfasser des in den amerikanischen und einigen europäischen Streitkräften einflußreichen „Maneuver Warfare Handbook“ von 1985. Er gilt zudem als einer der Väter der „Fourth-Generation-War-Theory“, nach der die Staaten ihr Monopol in der Kriegsführung verlieren, verursacht durch die „Legitimitätskrise“, der sich moderne Staaten zunehmend gegenübersehen. Lind war Direktor des Center for Cultural Conservatism der Free Congress-Stiftung in Washington, einer konservativen US-Denkfabrik und hatte zeitweilig ein eigenes Fernsehmagazin beim US-Kabelsender NET.

www.theamericanconservative.com

Foto: Wegweiser in die Zukunft: „Ohne Vergangenheit haben wir keine Basis, aufgrund derer wir die Gegenwart beurteilen können. Eine solche Gesellschaft ist Ideologien hilflos ausgeliefert.“

 

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