© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

Grauzonen des Verrats
Vor siebzig Jahren wurde die „Rote Kapelle“ enttarnt / Mindestens 57 Widerständler wurden wegen Landesverrats hingerichtet
Herbert Ammon

Stalins Randbemerkung auf dem NKWD-Bericht vom 17. Juni 1941 mit neuen Details zum bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion gilt als eines der stärksten Argumente für die Ahnungslosigkeit Stalins bezüglich der Absichten seines Verbündeten Hitler: „Genosse Merkulov. Schicken Sie Ihren ‘Informanten’ aus dem Stab der deutschen Luftwaffe zu seiner Hurenmutter zurück. Das ist kein ‘Informant’, sondern ein ‘Desinformator’ J.S.“

Die Angaben stammten von Harro Schulze-Boysen, Oberleutnant im Nachrichtendienst der Luftwaffe, und von Arvid Harnack, Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium. Entgegen landläufiger Meinung gelangten die seit Dezember 1940 übermittelten Informationen der „Roten Kapelle“ nicht per Funk nach Moskau, sondern über den Kontaktmann Harnacks und Schulze-Boysens bei der sowjetischen Botschaft. Der NKWD-Mann Alexander Korotkow hatte die Widerständler mit zwei Funkgeräten ausgestattet, die sich bereits nach dem ersten erfolgreichen Kontakt als defekt erwiesen.

Waren deutsche Quellen spätestens nach dem 22. Juni 1941 für Sowjets hochwichtig geworden, so wies die Moskauer Zentrale am 26. August 1941 ihren Residenten Leopold Trepper in Brüssel an, einen Kontaktmann nach Berlin zu senden. Der Funkspruch enthielt Adresse und Telefonnummer von Adam Kuckhoff sowie die Namen Arvid und Harro. Im Mai 1942 gelang es der Abwehr im OKW – von ihr stammt der Name „Rote Kapelle“ –, den Code zu entschlüsseln. Fortan war die Gestapo der Gruppe, die noch in der Nacht vom 17. Mai mit einer so riskanten wie effektlosen Zettelklebeaktion gegen die Ausstellung „Das Sowjetparadies“ hervorgetreten war, auf der Spur.

Am 31. August 1942 wurde Harro Schulze-Boysen aus seinem Büro in der unterirdischen Befehlszentrale der Luftwaffe in Potsdam-Wildpark gerufen und zu einer plötzlich anstehenden „Dienstreise“ weggebracht. Eine Woche später nahm die Gestapo Arvid Harnack und seine Ehefrau Mildred Harnack-Fish in einem Ort auf der Kurischen Nehrung fest, wo sie mit dem befreundeten Historiker Egmont Zechlin (nicht zufällig später Kritiker von Fritz Fischers „Kriegsschuld“-Thesen) Ferien verbrachten. Bei ihrer Heimkehr wurde Libertas Schulze-Boysen aus dem Zug heraus in Potsdam verhaftet. Zuvor hatte sie noch zusammen mit ihrem Filmkollegen Alexander Spoerl Filme und sonstiges Material vernichtet, das NS-Verbrechen in Polen und Rußland dokumentieren sollte.

Die Verhaftungswelle im Herbst 1942 und Frühjahr 1943 erfaßte etwa 150 Personen und kostete mindestens 57 Widerständler, darunter 19 Frauen, das Leben, die meisten durch Hinrichtung in Berlin-Plötzensee. Einige begingen Selbstmord, darunter der KPD-Aktivist John Sieg, der sich nach dreitägiger Folter erhängte. Für Libertas, die sich nach ihrer Verhaftung in der Prinz-Albrecht-Straße von einer Gestapo-Sekretärin hatte einwickeln lassen und Namen preisgegeben hatte, traf die Fürsprache ihrer Mutter bei Hermann Göring, der, einst von „Libs“ Charme angetaner Förderer Schulze-Boysens, den Kriegsgerichtsrat Manfred Röder mit der Anklage beauftragt hatte, auf Empörung. Das auf sechs Jahre Zuchthaus lautende Urteil gegen Mildred Harnack mündete auf Intervention Hitlers in einen Folgeprozeß mit Todesurteil. Der Geistliche Harald Poelchau, der schon ihren Mann Arvid auf dessen letzten Gang am 21. Dezember 1942 begleitet hatte, berichtet von ihren letzten Worten: „Und ich habe Deutschland so geliebt.“ Der zeitlebens jugendbewegte Harro Schulze-Boysen schrieb in seinem Abschiedsbrief: „Dieser Tod paßt zu mir.“

Die Kontroversen um die „Rote Kapelle“, die bis in die sechziger Jahre die Debatten bestimmten, sind inzwischen verstummt. Die DDR hatte die „Rote Kapelle“, unter Hinweis auf die Rolle der Kommunisten Hans Coppi und John Sieg, für sich vereinnahmt. Dies fiel um so leichter, als unter den Überlebenden Greta Kuckhoff, („Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle“, 1976), die seit ihren Studienjahren in Wisconsin mit den Harnacks befreundete Witwe des Schriftstellers Adam Kuckhoff, in der DDR zu Prominenz gelangte. Umgekehrt wollte man in der Bundesrepublik von dem nationalen Patriotismus eines Schulze-Boysen und selbst Arvid Harnacks so wenig wissen wie von eigenwilligen sozialistischen Konzepten.

In seiner Goerdeler-Biographie hatte einst der Historiker Gerhard Ritter, selbst Angehöriger des Kreises um Goerdeler, noch den „Landesverrat der kommunistischen Roten Kapelle“ unterschieden wissen wollen von den Aktionen eines Hans Oster, der bei der Mitteilung von Angriffsterminen „nur das Scheitern von Angriffsoperationen gegen neutrale Länder“ angestrebt habe. Dazu schrieb Margret Boveri 1956 in ihrem Werk „Der Verrat im XX. Jahrhundert“: „So einfach, wie es hier bei Ritter geschieht, ist die Grenzlinie zwischen sittlich erlaubtem und sittlich verwerflichem Verrat nicht zu ziehen.“

Anders als in Ritters Verdikt waren weder Arvid Harnack, Neffe des Theologen Adolf von Harnack und Vetter Dietrich Bonhoeffers, noch Schulze-Boysen überzeugte Kommunisten. Arvid Harnack erscheint im Innersten als religiöser Sozialist und deutscher Patriot. Schulze-Boysen, Großneffe des Admirals Tirpitz, gehört zum Typus der „linken Leute von rechts“ – ein Nonkonformismus, der zu Widerstandshandeln motivierte und befähigte. In anderer Form galt sein Widerstand immer noch dem Kampf gegen „Versailles“, wie er ihn vor und nach 1933 gegenüber seinen Freunden unter den französischen nonkonformistes verfochten hatte. Er schrieb dem Vater im letzten Brief : „Im übrigen habe ich alles, was ich tat, getan in der Annahme, daß sich die Situation von 1918 wiederholen könnte. Damals mußten wir das Diktat unterzeichnen, weil es unserer Außenpolitik an Rückendeckung gegenüber den Westmächten fehlte. Es fehlte an den personellen und techn. Voraussetzungen einer Drohung. Diese Voraussetzung wollten wir diesmal schaffen ...“ Nicht nur im Hinblick auf die Vergeblichkeit ihres Todesmutes enthüllt sich in den Biographien der Protagonisten der „Roten Kapelle“ die heutigen Deutschen so ferne wie fremde Tragik deutscher Geschichte.

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