© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/12 31. August 2012

Überall kann etwas schiefgehen
Schwarz-Gelb: Ein Jahr vor der Bundestagswahl sind die Auflösungserscheinungen unübersehbar
Paul Rosen

Ungewöhnlich hoch ist die Zahl der Bundestagsabgeordneten, die sich in diesen Tagen bereits vor dem Ende der Sommerpause in Berlin aufhalten. Man sieht sie in den Cafés, Restaurants und auf den Straßen im herbstlich werdenden Berlin. Die Anwesenheit hat einen handfesten Grund. Im Gebälk der Koalition und vor allem in der Union rumort es ohne Ende. „Die Abstimmung über das nächste Griechenland-Paket verliert sie“, sagt ein Abgeordneter beim Stochern im Salat im Bundestagsrestaurant. In der Tat: Kanzlerin Angela Merkel hat so viele Baustellen, daß überall etwas schiefgehen kann. Knapp ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl sind die Auflösungserscheinungen in der Koalition unübersehbar, auch wenn das „System M“ (Gertrud Höhler über Merkel) noch nicht am Boden liegt (siehe Artikel unten).

An Kleinigkeiten wird deutlich, daß nicht mehr jede Front gehalten werden kann, sondern man zur Begradigung übergeht: Als ruchbar wurde, daß sich um die Nachfolge des in Ungnade gefallenen Norbert Röttgen als CDU-Vize zwei Kandidaten drängeln, wurde kurzerhand das Signal ausgegeben, man könne einen Stellvertreterposten mehr einrichten, um eine Kampfabstimmung zu vermeiden. Damit soll das Parteivolk keine Wahl mehr haben. An anderer Stelle wird abgewartet: Merkel und ihre Getreuen riskieren keinen Zank mehr mit der FDP um die Gewährung des steuerlichen Ehegattensplittings für Homosexuelle, sondern wollen nur die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten. Insgeheim hat man die Hoffnung, daß die Richter in Karlsruhe eine der letzten Barrieren auf dem Weg zur völligen Gleichberechtigung homosexueller Lebensgemeinschaften mit der Ehe aus dem Weg räumen. Denn nachdem ein gutes Dutzend CDU-Abgeordneter sich mit Liberalen und der Opposition solidarisiert hat, brechen auch hier bereits die Dämme. Eine Gesetzesinitiative der Opposition zur Gleichstellung Homosexueller könnte durchaus die Mehrheit bekommen.

Weitere Baustellen: Die Energiewende, „vor einem Jahr von der Kanzlerin zum Herzstück ihrer Regierungsarbeit ausgerufen, hakt an allen Ecken und Enden“, stellte der Spiegel nüchtern fest. Umweltminister Peter Altmaier, von dem neue Initiativen erwartet wurden, findet aber keine Lösung zur Sicherung der Grundlast, falls die Sonne nicht scheint und kein Wind weht.

Irgendwie versucht die Union auch, eine Floskel für die Einführung einer Frauenquote in Unternehmen zu finden, was von der FDP strikt abgelehnt wird. Und Sozialministerin Ursula von der Leyen irrlichtert weiter mit ihrer Idee einer Grundrente für alle (verniedlichend als „Zuschußrente“ bezeichnet) durch Berlin. Glück in allem Unglück für die Kanzlerin, daß der konservative Berliner Kreis von Unionspolitikern keine Gründungserklärung zustande brachte.

Das Hauptgefechtsfeld ist jedoch die Europolitik. Griechenland kann aus deutscher Sicht keine Rettungspakete im bisherigen Stil mehr erhalten. Darin ist sich die Koalition einig, weil einfach keine Mehrheit mehr da ist und sich ein immer größerer Teil der Abgeordneten auch nicht mehr unter die Knute der Fraktionsführungen zwingen läßt. Bei der FDP rechnen zwei Drittel ihrer 93 Abgeordneten nicht mehr damit, in der 18. Legislaturperiode dabei zu sein. Das macht eine Disziplinierung dieser ohnehin schon in den Zombie-Zustand übergegangenen Fraktion unmöglich. Nur Parteichef Philipp Rösler zog offenbar auf Druck von Merkel seine Griechenlandkritik wieder zurück, was seine Glaubwürdigkeit nicht erhöhte.

Man weiß außerdem nicht, wie sich das Bundesverfassungsgericht in seiner für den 12. September erwarteten Entscheidung zum dauerhaften Rettungsschirm ESM stellen wird. Man ahnt aber, daß, wenn der Schirm nicht ganz zugeklappt wird, Karlsruhe wenigstens so viele Bedingungen formulieren wird, daß sein Aufspannen fast unmöglich wird. Damit wäre der ESM nicht tot, aber für Rettungsaktionen unbrauchbar. Es steht jedoch zu erwarten, daß Merkel und der französische Präsident François Hollande sämtliche künftigen Rettungspakete über die Europäische Zentralbank (EZB) finanzieren lassen (etwa durch Anleihenkäufe). Damit würden sich die Regierungen von den Parlamenten unabhängig machen. Die Wirtschaftswoche erkannte „italienische Verhältnisse“ bei der EZB: mehr Inflation, weiche Währung und weniger Wachstum. Mit einer weichen Währung sei aber noch nie Wohlstand geschaffen oder erhalten worden, warnte der Schweizer Vermögensberater Felix Zulauf.

Daneben schwappt eine Debattenwelle durchs Land, wie sie selten zu erleben war. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, einer der klügeren jungen Politiker seiner Partei, sieht „Griechenland 2013 außerhalb der Euro-Zone“ und wirft dem EZB-Präsidenten Mario Draghi wegen der Anleihenkäufe „Falschmünzerei“ vor. Während Außenminister Guido Westerwelle (FDP) Dobrindt lautstark „Griechenland-Mobbing“ vorwirft und auch Merkel den Generalsekretär in die Schranken verweist, führt genaueres Hinschauen zu der Erkenntnis, daß die CSU nicht treibende Kraft deutscher Euro-Realisten, sondern Getriebene ist: Ihr sitzt mit den Freien Wählern eine konservative Landtags-Opposition im Nacken, die die Billionen-Garantien und EZB-Anleihenkäufe scharf kritisiert. Hellsichtig erkannte die FAZ, mit den im Volk fest verankerten Freien Wählern „droht der CSU, was sie immer gefürchtet hat wie der Teufel das Weihwasser, nämlich daß sich neben ihr eine rechtskonservative Kraft dauerhaft etablieren kann“.

Vielleicht sind die Bayern den Berlinern nur ein Stück voraus.

Foto: Angela Merkel in der vergangenen Woche mit dem griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras: Keine Mehrheit für neue Pakete

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