© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Vom Handelsneid eines Imperiums
125 Jahre „Made in Germany“: Die deutsch-britische Wirtschaftskonkurrenz vor 1914 und ihre Folgen
Dag Krienen

Auf die Länge beginnen auch in England die Leute zu verstehen, daß es in Europa zwei große unversöhnliche, entgegengesetzte Mächte gibt, zwei große Nationen, welche die ganze Welt zu ihrem Einflußgebiet machen und von ihr Handelstribut erheben möchten. England, mit seiner langen Geschichte erfolgreicher Aggression, mit seiner wunderbaren Überzeugung, daß es, wenn es seine eigenen Interessen verfolgt, zugleich unter den im Dunkeln wohnenden Völkern Licht verbreitet, und Deutschland, Fleisch vom selben Fleisch, Blut vom selben Blut, mit geringerer Willenskraft, aber vielleicht lebhafterer Intelligenz, rivalisieren in jedem Winkel des Erdballs. (...) Gilt es ein Bergwerk auszubeuten, eine Eisenbahn zu bauen, Eingeborene vom Brotfruchtbaum zur Fleischkonserve, von der Enthaltsamkeit zum Branntwein zu bekehren, der Deutsche und der Engländer kämpfen darum, der Erste zu sein. Eine Million geringfügiger Streitigkeiten schließen sich zum größten Kriegsgrund zusammen, welchen die Welt je gesehen hat. Wenn morgen Deutschland ausgelöscht würde, gäbe es übermorgen keinen Engländer in der Welt, der nicht um so reicher geworden wäre. Nationen haben jahrelang um eine Stadt oder um das Recht der Thronfolge gekämpft, warum sollten sie nicht auch um 250 Millionen Pfund jährlichen Handels kämpfen?“

Dieser Absatz aus einem Artikel der eher unbedeutenden englischen Saturday Review vom 11. September 1897, der zudem mit den Worten schloß: „ Germaniam esse delendam“, hat Geschichte gemacht. Der Topos vom nackten, egoistischen „Handelsneid“ der Briten als zentralem Motiv für die Einkreisung und schließlich Bekriegung des Reichs fand in Deutschland vor und nach 1914 nicht nur in ultranationalistischen Kreisen weite Verbreitung und wurde zum Lieblingszitat Tirpitz’, sobald es galt, seine Flottenrüstungspläne zu rechtfertigen. Auch der Brockhaus von 1908 stellte im Artikel zur jüngeren deutschen Geschichte fest, daß sich in den1890er Jahren „in England infolge der starken deutschen Konkurrenz in Industrie und Handel eine antideutsche Stimmung geltend gemacht“ habe und die beiden Länder nun auch auf anderen Gebieten in Gegensatz gerieten.

Daß es solchen wechselseitigen „Handelsneid“ gab, ist nicht zu leugnen. Er war bei dem Tempo und dem Erfolg der wirtschaftlichen Aufholjagd Deutschlands nach 1870 auch kaum zu vermeiden. Seine Schwerindustrie holte nicht nur rasch auf, sondern überholte Großbritannien um die Jahrhundertwende. In manchen Industriezweigen, vor allem in der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts dynamisch entwickelnden elektrotechnischen, optischen und vor allem der Chemieindustrie, aber auch im Maschinenbau wurden die britischen Produzenten von ihren deutschen Konkurrenten immer öfter auf die Plätze verwiesen – seit dem Ende der 1880er Jahren zunehmend auch auf den Exportmärkten der Welt, wo bis dato die Briten häufig eine Quasi-Monopolstellung innehatten.

In vielen Wirtschaftszweigen und Ländern stießen deutsche und britische Konkurrenten nun direkt aufeinander. Großbritannien als Mutterland der Industrialisierung und „Workshop of the World“ hatte 1872 noch 45,5 Prozent aller Industrieexporte der Welt bestritten. 1913 waren es „nur“ noch 26,8 Prozent. Deutschlands Anteil stieg in der gleichen Zeit von 12,6 Prozent auf 24,4 Prozent. Betrachtet man den gesamten Anteil am Weltaußenhandel mit allen Arten von Waren, so fiel der Anteil der größten Kolonialmacht des Erdballs kontinuierlich von 23 Prozent 1880 über 20 Prozent 1900 auf 17 Prozent 1913. Der Anteil am Weltexport betrug 1913 sogar nur noch 14 Prozent, während der deutsche auf 13 Prozent angewachsen war.

Diese relativen Positionsverluste Englands im Welthandel waren indes mit keinen Wohlstandsverlusten verbunden, im Gegenteil. Deutschlands Industrieproduktion und Exporte stiegen zwischen 1870 und 1913 zwar um mehr als das Vierfache, aber auch Britanniens Industrieproduktion verdoppelte sich und seine Exporte verdreifachten sich sogar. Zudem entwickelte sich London immer mehr zum Bankier, Versicherungs- und Seespediteur der Welt. Sein Einkommen aus den entsprechenden Geschäften sowie aus der Verzinsung seiner gigantischen, die deutschen um das Vierfache übertreffenden Kapitalanlagen im Ausland betrug um 1910 fast 400 Millionen Pfund im Jahr, weitere 100 Millionen Pfund kamen aus dem Import und sofortigen Reexport von Kolonialwaren und Rohstoffen hinzu. Diese Einnahmen glichen die chronisch defizitäre Bilanz im reinen Warenaußenhandel mehr als aus.

Die britisch-deutsche Wirtschaftskonkurrenz in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg folgte einem Muster, das heute durchaus geläufig ist: Ein industrieller Newcomer erlebt, von einer niedrigen Ausgangsbasis aus, ein rasantes wirtschaftliches Wachstum und drängt mit seinen Produkten auch auf die Exportmärkte, zunächst mit „billigen und schlechten“ Waren, dann aber auch mit immer besseren und schließlich sogar in Preis und Qualität überlegenen Erzeugnissen. Der insoweit typisch verlaufende Aufstieg Deutschlands als industrieller Neuankömmling war allerdings der erste solche Fall in der modernen Wirtschaftsgeschichte (die gleichzeitig aufsteigenden USA traten beim Export von Industriewaren zunächst nicht so stark hervor).

Ein solcher Aufstieg ist für die bisherigen Platzhirsche immer mit unangenehmen Begleiterscheinungen und diffusen Ängsten verbunden. Für die Briten bedeutete der deutsche Aufstieg indes nicht nur, daß sie mit einem zuvor nicht gekannten Phänomen konfrontiert wurden, sondern zudem plötzlich die Stellung als einziger Platzhirsch, als einzige große industrielle Erzeuger- und Handelsnation in der Welt zu verlieren begannen – und dies sogar im eigenen Land zu spüren bekamen. Hatte Deutschland noch in den 1870er Jahren vor allem landwirtschaftliche Produkte nach Großbritannien exportiert, waren es ab den 1880er Jahren immer mehr Industriewaren.

Der Merchandise Marks Act von 1887, der die Herkunftsbezeichnung „Made in Germany“ zwingend vorschrieb, gehörte zu den Maßnahmen, die diesem Zustrom Grenzen setzen sollten. Diese und andere „Buy British“-Aktionen und vor allem die sie begleitenden Pressekampagnen und britisch-deutschen Pressekriege, die der Gegenseite jeweils möglichst finstere wirtschaftliche Motive und Praktiken zuschrieben, waren indes vor allem das Produkt wirtschaftlicher Krisenzeiten. Auch der eingangs zitierte Artikel in der Saturday Review wurde zu einer Zeit publiziert, als die englischen, aber auch die deutschen Exporte 1873 bis 1897 in der „Great Depression“ (Gründerkrise) stagnierten. Zu dieser Zeit fanden Stimmen vermehrt Gehör, die den Welthandel als Nullsummenspiel betrachteten, bei dem die Gewinne der einen Seite nur durch entsprechende Verluste der anderen zu erzielen waren. Das Hoch in der Weltkonjunktur von 1897 bis 1913, an dem beide Volkswirtschaften in fast gleichem Umfang partizipierten, ließ sie wieder in den Hintergrund treten.

Völlig verschwanden diese Stimmen allerdings nie. Die einmal etablierten Bilder von britischem „Handelsneid“ und „unfairer“ deutscher Konkurrenz waren bei Bedarf immer wieder reaktivierbar und wurden auch reaktiviert, sobald es in den zwischenstaatlichen Beziehungen kriselte. Andererseits gab es sowohl in Großbritannien als auch im Deutschen Reich gerade in der Wirtschaft einflußreiche Kreise, die die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen als äußerst gewinnbringend für beide Nationen ansahen.

Tatsächlich waren bis 1913 Deutschland und Großbritannien des jeweils anderen bester europäischer Kunde. Zwar exportierten die Deutschen in das britische Mutterland fast doppelt so viel Waren wie umgekehrt. Doch wurden diese Überschüsse durch deutsche Importe von Rohstoffen aus dem Empire wieder ausgeglichen. Auch die britischen Banken, Versicherungen und Reeder fanden in der deutschen Exportwirtschaft ihre beste Kundschaft. Die britischen Großhandels- und Finanzkreise der Londoner „City“ gehörten hingegen auch in der Julikrise 1914 zu den vehementesten Gegnern eines britisch-deutschen Krieges.

Natürlich gab es stets auch durch eine direkte deutsche Konkurrenz hart bedrängte englische Geschäftleute, die ihren Einfluß geltend zu machen suchten. Aber es gibt keine Beweise, daß solcher „Handelsneid“ die politischen Führer Britanniens soweit beeinflußte, daß ihre Deutschlandpolitik von dem Motiv geprägt war, Deutschland als ökonomischen Konkurrenten völlig auszuschalten. Bei der britischen Entscheidung zum Kriegseintritt 1914 läßt sich eine maßgebliche Rolle wirtschaftlicher Motive auch nicht nachweisen. Wohl aber trug die rasante Entwicklung der deutschen Wirtschaft seit 1871 maßgeblich zu den wachsenden politischen Aversionen der Briten gegen das Reich bei. Ein sich derart dynamisch entwickelndes, industrialisiertes Deutschland, das sich neben einer der stärksten Armeen des Kontinents auch noch den Bau der zweitstärksten Flotte der Welt leisten konnte, stellte 1914 einen ganz anderen Machtfaktor dar als jenes Bündel von Agrarstaaten, das dort bis 1866/71 existiert hatte.

Deutschlands ökonomischer Aufschwung erhöhte nahezu unausweichlich das Mißtrauen der englischen politischen Eliten, daß dieses Land die für Britanniens damalige weltpolitische Stellung grundlegende „Balance of Power“ zwischen den kontinentaleuropäischen Mächten gefährden könnte – und zwar nicht nur durch seine militärische, sondern auch durch seine scheinbar unaufhaltsam wachsende ökonomische Macht. Nicht der kleinliche „Handelsneid“ britischer „Krämer“, sondern die politische Sorge der britischen Führer vor dem Verlust der weltpolitischen Position Großbritanniens durch den – auch ökonomischen – Aufstieg einer potentiellen kontinentalen Hegemonialmacht bestimmte die britische Deutschlandpolitik vor 1914.

Foto: „Made in Germany“ als Erfolgssignum: „Mit geringerer Willenskraft, aber vielleicht lebhafterer Intelligenz“

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