© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Warum der Kampf um die Vorhaut tobt
Der archaische Schnitt
Hans E. Müller

Die Beschneidung ist ein archaischer Brauch, der vermutlich schon vor zirka 70.000 Jahren existierte, als eine Gruppe des Homo sapiens von Afrika aus die anderen Kontinente besiedelte. Darauf weist die Beschneidungszeremonie von australischen Aborigines hin, die im Rahmen ihres Initiationsritus erfolgt. Ebenso praktizierten semitische Hirtenvölker im Vorderen und Mittleren Orient die männliche Beschneidung schon viele Jahrtausende lang. Die islamische Überlieferung schreibt sie Adam zu, dem ersten Propheten.

Die Beschneidung ist wohl aus der Kastration von Gefangenen feindlicher Gruppen entstanden, die bei Stammesfehden in die Sklaverei geraten waren. Weil aber zeugungsfähige Sklaven im Gegensatz zu Kastraten die Gefolgschaft ihres Herrn und damit seine Macht vergrößerten, entstand die Beschneidung als ritualisierte Kastration und gleichzeitiges Brandmal ihrer Leibeigenschaft.

Exakt in diesem Sinn schloß auch Gott mit Abraham, dem Stammvater der Juden und Araber, seinen Bund. Es war das uralte Herr-Sklave-Besitzverhältnis: „Das ist aber mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir: Alles was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Ihr sollt aber die Vorhaut an eurem Fleisch beschneiden. Das soll ein Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch“ (1. Mose 17, 10-11). Wie damals alle Herren, so war auch der Gott Abrahams an dessen reicher Nachkommenschaft interessiert.

Seine Ehe war jedoch über Jahrzehnte kinderlos geblieben und Sara sprach „zu Abraham: Siehe, der Herr hat mich verschlossen, daß ich nicht gebären kann. Gehe doch zu meiner Magd“ (1. Mose 16, 2). „Und Abraham war 86 Jahre alt, da ihm Hagar den Ismael gebar“ (1. Mose 16, 16), den Stammvater der Araber. Reduziert man den Bericht der Genesis auf glaubwürdige Tatsachen und läßt die unwahrscheinlichen Altersangaben außer Betracht, so war Sara, wie die Genesis andernorts berichtet, ausnehmend schön, hatte Sex-Appeal (1. Mose 12, 11), war sexuell leicht erregbar und deshalb für Abraham aus „Wollust verschlossen“ (1. Mose 18, 12 und 16, 2).

Die Annahme ist daher naheliegend, daß bei Abraham eine wohl genetisch bedingte anatomische Mißbildung vorlag, die im weiteren Sinn als Phimose anzusprechen ist. Es mag eine echte Phimose, eine Paraphimose, ein Frenulum breve oder ein genitaler Lichen sclerosus gewesen sein, Diagnosen, die auch heute noch als Indikation für eine Zirkumzision gelten. Deshalb konnten Abrahams Genital- und Eheprobleme erst durch Gottes Beschneidungsgebot gelöst werden: „Da nahm Abraham seinen Sohn Ismael und alle Knechte, die daheim geboren, und alle, die erkauft, und alles, was männlich war in seinem Hause, und beschnitt die Vorhaut an ihrem Fleisch ebendesselben Tages, wie ihm Gott gesagt hatte. Und Abraham war 99 Jahre alt, da er die Vorhaut an seinem Fleisch beschnitt“ (1. Mose 17, 23-24). Der Islam weiß, daß er dazu ein Beil verwendet und sich die über die Eichel vorgezogene Vorhaut abgehackt hat. Danach „zeugte er Isaak und beschnitt ihn am achten Tage, und Isaak den Jakob, und Jakob die zwölf Erzväter“ (Apg. 7, 8).

Diese Beschneidungen vor zirka 4.000 Jahren waren nicht nur aktuell für Abraham und vielleicht auch für Isaak und Jakob therapeutisch sinnvolle Maßnahmen, sondern darüber hinaus identitätsstiftend für das ganze von Abraham abstammende Volk der Israeliten sowie eine Lebensgarantie für jeden einzelnen. Denn außerhalb ihres eigenen Volkes waren die Menschen damals vogelfrei und nur durch das Gastrecht geschützt. Bereits um die Zeitenwende gab es jedoch die Pax Romana und das vom römischen Staat garantierte Recht auf Leben.

Daher war das Beschneidungsgebot schon damals umstritten. So fragten etwa die Jünger im apokryphen Thomas-Evangelium: „Ist die Beschneidung nützlich oder nicht?“ Und Jesus antwortete: „Wenn sie nützlich wäre, würde unser Vater die Kinder schon beschnitten von der Mutter gebären lassen. Doch die wahre Beschneidung erfolgt im Geist.“ Auch für Paulus war die Beschneidung nebensächlich geworden, und so wurde sie im athanasisch-westlichen Christentum obsolet und durch die Taufe ersetzt.

Ganz anders im arianisch-orientalischen Christentum. Hier blieb die Tradition der Beschneidung ebenso erhalten wie viele andere Thoragebote, die im paulinisch-europäischen Christentum über Bord gingen. Der im 7. Jahrhundert wahrscheinlich aus der arabischen Übersetzung eines syrisch-aramäischen Evangelienbuchs entstandene Koran erwähnt die Beschneidung nur indirekt als ein Gebot Abrahams, dem die Gläubigen folgen sollen. Erst in der Sunna wird die Beschneidung als Bestandteil der Fitra, einer rituellen Reinheit, näher ausgeführt und dogmatisiert.

Dazu gehören außerdem das Schneiden von Finger- und Fußnägeln, das Auszupfen oder Rasieren der Achselhaare, der Schamhaare und das Kurzschneiden des Bartes. Wie in der Befolgung vieler anderer Ge- und Verbote ist der Islam auch bei der Beschneidung auf kein bestimmtes Alter festgelegt und sehr flexibel. Im Gegensatz dazu beharrt das orthodoxe Judentum auf einer Beschneidung am achten Tag nach der Geburt mit der Begründung, Gott habe die Menschen, abgesehen von der Vorhaut, als sein Ebenbild erschaffen und damit den Angehörigen seines auserwählten Volkes die Möglichkeit gegeben, das Werk Gottes an ihrem Körper durch die Beschneidung zu vollenden.

Im 19. Jahrhundert betrachteten sich die Briten ebenfalls als Gottes eigenes Volk und dreizehnten Stamm Israels. Und ihr weltweites Kolonialreich bestätigte ihnen, eine auserwählte Nation zu sein. So lag es nahe, diesen Bund mit Gott durch die Beschneidung zu dokumentieren. Wohl deshalb hatte Königin Victoria alle männlichen Nachkommen des Köngishauses beschneiden lassen und die Zirkumzision in Großbritannien hoffähig gemacht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich in den Vereinigten Staaten die Indikation für eine Beschneidung in das Gegenteil verkehrt. Jetzt waren nicht mehr biblisch-moralische, sondern hygienische beziehungsweise ästhetisch-libidinöse Aspekte die ausschlaggebenden Gründe für Eltern, um ihre Jungen beschneiden zu lassen. Schließlich wurde die Beschneidung 2007 von der Weltgesundheitsorganisation für erwachsene Männer in hochendemischen HIV-Regionen als relativer Schutz vor Geschlechtskrankheiten generell empfohlen.

Zeitlich parallel rückten aber auch die Nachteile der Zirkumzision immer stärker in den Fokus des Interesses. Das Umdenken begann 1949, als Douglas Gairdner im British Medical Journal berichtete, daß in Großbritannien 1942 bis 1947 jährlich im Mittel 16 Jungen an ihrer Beschneidung gestorben waren. Das entsprach einem Todesfall auf 6.000 und liegt in der derzeitigen Größenordnung von gefürchteten Seuchen wie Hepatitis A, Ruhr, Typhus und Paratyphus. Seither ist in England die Rate der aus nicht-religiösen Gründen beschnittenen Säuglinge auf unter ein Prozent gesunken.

Auch Prinz Charles war auf Wunsch seiner Eltern noch von einem Mohel, einem für diese Ritualhandlung speziell ausgebildeten Rabbiner, beschnitten worden. Aber eine Generation später brach Prinzessin Diana mit dieser Tradition und verweigerte die Beschneidung ihrer Söhne. Ähnlich, wenn auch wesentlich langsamer, läuft der Trend in den USA. 1965 wurden hier noch 85 Prozent aller Neugeborenen beschnitten, zur Zeit sind es nur mehr 55 Prozent. Und nachdem 2011 18 staatliche Medicaid-Programme die Finanzierung der bisher kostenlosen Beschneidung aus nicht-therapeutischen Gründen eingestellt haben, dürfte der Prozentsatz der Zirkumzisionen noch rascher sinken. Dagegen war die Beschneidung in Deutschland bis zum Urteil des Landgerichts Köln vom Juni dieses Jahres noch nie ein die Allgemeinheit interessierendes Thema. Über die wenigen chirurgischen Eingriffe aus medizinischer Indikation herrschte Schweigen. Denn so ausführlich und detailverliebt die Medien über plastische Schönheitsoperationen an Nase, Busen, Bauch oder Po berichten, so wenig erfuhr die Öffentlichkeit über die Zirkumzision.

Lediglich in Fachkreisen wußte man schon lange, daß die Beschneidung mit einer beträchtlichen Komplikationsrate behaftet ist. Bei Erwachsenen sind es nur 0,2 bis zwei Prozent, bei Säuglingen bis zu zirka zehn Prozent. Dabei kommt es zu postoperativer Sekretion, zu Ödem, Verengung der Harnröhrenöffnung bis hin zu Harnverhaltung, Wundinfektion, Narbenbildung, in sechs Prozent zu Nachblutungen und zu erheblichen Schmerzen, denn die Vorhaut ist ähnlich wie Augenbindehaut, Lippen oder Fingerbeeren hoch sensibel.

Das Kölner Gericht stand vor der konkreten Frage, ob die von der moslemischen Mutter veranlaßte Beschneidung ihres vierjährigen Jungen als Körperverletzung zu werten sei. Er war zwei Tage nach einer von einem erfahrenen syrischen Arzt korrekt durchgeführten Beschneidung in die Notaufnahme eingeliefert worden, weil es zur Nachblutung gekommen, die freiliegende Eicheloberfläche zerfressen und fibrinös belegt und die Blase infolge Harnverhaltung mit einem halben Liter Urin überfüllt war. Eindeutig bestand eine lebensbedrohliche Komplikation und bestätigte die alte englische Statistik aus den 1940er Jahren, wonach selbst die absolut korrekt durchgeführte Zirkumzision durch lebensbedrohende Komplikationen belastet ist, die nicht immer beherrschbar sind und gelegentlich zum Tod der Kinder führen.

Gleichzeitig widerlegt der Fall die bei Moslems und Juden allgemein verbreitete, aber durch keine Statistik gedeckte Meinung, die Beschneidung sei ein absolut harmloser Eingriff, vergleichbar etwa mit Venenpunktion oder Piercing, die im übrigen ebenfalls juristisch als Körperverletzungen gelten, wozu die Betroffenen ihre Einwilligung geben müssen. Konsequent bewertete das Gericht den Grundgesetzartikel 3 und das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Jungen als höherrangiges Rechtsgut gegenüber dem ebenfalls grundgesetzlich nach Artikel 6 garantierten Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder.

Dazu gehört zwar auch die ungestörte Religionsausübung nach Artikel 4. Doch das Elternrecht stößt an seine Grenzen, wenn dadurch nicht nur das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit des Glaubens eingeengt, sondern auch die körperliche Unversehrtheit der unmündigen Kinder verletzt wird. Ebenso wie der Staat unmündige Kinder vor brutal-gewalttätigen und schlagwütigen Eltern schützt und sie im Extremfall ihren Eltern sogar wegnimmt, so muß er ihre körperliche Unversehrtheit und die Freiheit ihres Glaubens schützen.

Von ihren Anhängern wird die Beschneidung oft mit einer Impfung verglichen, die ja ebenfalls ein Eingriff in die Integrität des kindlichen Körpers ist. Der Unterschied besteht jedoch nicht nur in den geringeren Schmerzen einer Impfung, verglichen mit der Beschneidung, sondern auch im objektiven Nutzen einer Impfung für das Kind. Dagegen wird mit der Beschneidung das Genitale des Kindes verstümmelt, und das ist objektiv ein Schaden. Beweise dafür sind erstens die weltweit sinkenden Zahlen nicht-religiöser Zirkumzisionen, zweitens die Erfahrungen von Männern, die ihre Koitusempfindungen vor und nach ihrer Beschneidung vergleichen konnten. Sie selbst und ihre Partnerinnen berichten gleichlautend, daß ihr Sexualleben durch die Zirkumzision schlechter geworden ist. Drittens sind schon seit dem 2. vorchristlichen Jahrhundert Restaurationsoperationen bekannt, um die Zirkumzision wieder rückgängig zu machen.

Das Landgericht Köln sprach ein in jeder Beziehung salomonisches Urteil: Der operierende Arzt wurde freigesprochen, weil er in unvermeidbarem Verbotsirrtum gehandelt und zudem die Operation lege artis durchgeführt hat. Die Zirkumzision wurde als einfache Körperverletzung gewertet, vergleichbar einer Ohrfeige oder einem Tritt ans Schienbein, wie sie bei jeder Schlägerei ausgeteilt und eingesteckt werden. Es sind zwar Eingriffe in die vom Grundgesetz geschützte körperliche Unversehrtheit und deshalb verboten, aber sie werden von Amts wegen nicht verfolgt. Die Staatsanwaltschaft wird hier lediglich auf Antrag des Verletzten oder seines Sorgeberechtigten aktiv. Normalerweise erfolgen Beschneidungen in beiderseitigem Einverständnis, und solange es keine Klage gibt, gibt es auch keinen Richter.

 

Prof. Dr. Dr. Hans E. Müller, Jahrgang 1930, Chemiker und Mediziner, war als wissenschaftlicher Assistent in Mainz, Bochum, Göttingen und Bonn tätig. Von 1975 bis 1995 leitete er das Staatliche Medizinaluntersuchungsamt Braunschweig.

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