© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Eine neue Welt entsteht
Richard Wagner, JF-Serie Teil III (Schluß): Moderner Staat, Pessimismus und die Wiederkehr der politischen Utopie / „Meistersinger“ sowie „Tristan und Isolde“ als zwei Seiten einer Münze
Thomas Bargatzky

Die Vorarbeiten zum „Ring“ reichen in den Spätsommer des Jahres 1848 zurück. Am 4. Oktober des Jahres legte Wagner den Entwurf zu „Die Nibelungensage (Mythos)“ vor; aber bereits am 28. April 1848 hatte er die Partitur zum „Lohengrin“ beendet. Eine gedankliche Nähe zum Drachenkampf-Motiv des „Ring“-Zyklus ist also schon rein chronologisch plausibel; durch die Analyse des Verhältnisses Ortrud-Lohengrin im Lichte der vergleichenden Mythenforschung wird sie zur Gewißheit. Nach dem Sieg des Helden über ein oft auch weibliches drachenartiges Urzeit-Wesen entsteht nämlich etwas Neues: die gegenwärtige Weltordnung. So auch in „Lohengrin“: Der Tod Ortruds, der Vertreterin der archaischen Ordnung der vorchristlichen Götter, läutet das Heraufkommen einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung ein.

Lohengrins Sieg begründet eine neue, nicht-archaische Ordnung. Anders als im Mythos, in dem alles dem Gesetz der Wiederkehr unterliegt, muß Lohengrin für immer in die Welt des Grals zurückkehren. Anders auch als im Mythos, in dem das Sakrale innerweltlich wirksam ist, bleibt das Numinose – der Gral – von nun an außerweltlich, jenseitig: „In fernem Land, unnahbar euren Schritten“ („Lohengrin“ III, 3).

Die neue Welt, die der Sieger im Drachenkampf hinterläßt, ist die Welt des modernen, säkularisierten Staates ohne Wunder und Mythos, in der Religion Privatsache ist. Das Numinose kann in dieser Welt nur noch sakramental, durch die Vermittlung wirksam werden, beispielsweise durch Ring, Horn und Schwert, die Lohengrin dem Gottfried schenkt, dem Herzog von Brabant. Die Menschen bleiben unter sich, kein Gralsritter kommt ihnen mehr zu Hilfe.

Die letzten Worte in „Lohengrin“ sind daher „Ach“ und „Weh“, denn die neue Welt der Moderne bietet keine unhinterfragte Gewißheit einer Erlösung in der göttlichen Geborgenheit mehr, die noch Holländer und Senta miteinander teilten. Es ist eine Welt, in der den Menschen, als nunmehr aus den alten Gewißheiten entlassenen „freigesetzten“ Individuen der Kompaß abhanden kommen kann, so wie es Tristan und Isolde widerfährt.

Tristan und Isolde – das sind Holländer und Senta noch einmal, freilich ohne die Tröstungen eines quasi-christlichen Jenseits. Kaum ein Werk Wagners ist daher moderner als „Tristan und Isolde“, nirgendwo schafft Wagner der „Geworfenheit“ des modernen Menschen so illusionslosen Ausdruck wie in dieser 1859 vollendeten „Handlung in drei Aufzügen“.

Aber auch in der Geworfenheit seiner Existenz ist das moderne Individuum nicht alleine: Nach der Auflösung des Lehnswesens formierten sich die aus den alten Bindungen „freigesetzten“ Individuen neu unter kapitalistischem Vorzeichen in Bürgertum und Arbeiterschaft. Der säkulare oder auch laizistische Rechtsstaat trat an die Stelle der religiös legitimierten Feudalordnung und lieferte als Nationalstaat auf der Grundlage einer als eigenständig wahrgenommenen und geförderten Kultur eine neue ideelle Klammer für die unterschiedlichen Interessen verpflichteten Bürger, die nicht länger Untertanen eines Souveräns waren, sondern nunmehr selber der Souverän sind.

Dies ist die Welt, die uns voller Optimismus in den „Meistersingern“ entgegentritt. Hier formiert sich das Volk als souveräner Demos; der Adel hat keine Legitimation zur Herrschaft mehr, es sei denn, er schafft sie sich – zum Beispiel, wie Stolzing, durch Leistungen in der Kunst, der neuen identitätsstiftenden Säkularreligion der bürgerlichen Gesellschaft. Kirche und Religion kommen in den „Meistersingern“ nicht vor. Das heißt nicht, daß sie nicht mehr existierten, aber sie sind eben Privatsache geworden, spielen keine Rolle mehr für die ideologische Legitimation des modernen politischen Gemeinwesens.

Nirgendwo sonst in seinen Musikdramen ist Wagner so demokratisch, so republikanisch, so säkular, ja so links – denn die Nation betritt ja als Ausdruck der politischen Linken die Bühne der Geschichte, was man heute in Deutschland vergessen hat. Und wenn das Volk am Schluß Hans Sachs „Heil!“ zuruft, dann ist das keine vorauseilende Huldigung an den künftigen GröFaZ, wie die schlichteren Gemüter unter den Wagner-Verächtern glauben, sondern es ist inmitten all der Fahnen, Lobpreisungen und Gesänge auf der Festwiese die säkulare Selbstfeier des bürgerlichen Souveräns, der sich in seinem Vertreter selber beglückwünscht.

„Meistersinger“ sowie „Tristan und Isolde“ gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Münze, denn sie sind Wagners modernste Bühnenwerke, in denen uns das Schicksal des modernen Menschen unverhüllt in seiner komplementären Doppelgestalt als Vereinzelt-Einzelner einerseits und im Kollektiv aufgefangener citoyen andererseits präsentiert wird. Es ist interessant, daß Wagner den ersten Prosaentwurf der als Partitur erst 1867 vollendeten „Meistersinger“ bereits am 16. Juli 1845 vorlegte, also ein knappes Vierteljahr nach der Vollendung der Partitur des „Lohengrin“. Dieses Werk will mit seinem Optimismus so gar nicht zum melancholischen und pessimistischen Schluß des „Lohengrin“ passen, wo die Heraufkunft der neuen Ordnung mit Wehklagen begrüßt wird.

Der Pessimismus des zwischen 1854 und 1859 entstandenen „Tristan“ schlägt sich ja auch in dem gewaltigen „Ring“-Zyklus nieder, aber er hat auf die ganze lange Schaffenszeit von der Vollendung des „Lohengrin“ an bis zur Vollendung der „Götterdämmerung“ im Jahre 1874 einen Schatten geworfen. Auch Siegfried scheitert, der moderne Mensch, der seine Waffe ohne die Hilfe der Götter hergestellt hat und daher frei von den vertraglichen Bindungen ist, die deren Handlungsfreiheit beschränken. Auch er versinkt ja im Sumpf aus Egoismus, Habgier und Intrigen, der Wotan das Ende herbeisehnen läßt. In der kosmischen Katastrophe des Weltenbrandes lösen sich Natur und moderne Menschenwelt auf, aber am Schluß der „Götterdämmerung“ entfaltet die Musik jenes Motiv, das zum ersten Mal im dritten Akt der „Walküre“ zu Sieglindes Ruf „O hehrstes Wunder“ erklingt, nach Brünnhildes Verheißung der Geburt Siegfrieds. Es bleibt Hoffnung. Was wird folgen?

„Erlösung dem Erlöser“: Mit den letzten Worten in „Parsifal“ wird die Moderne entlassen, denn sie ist alt geworden und hat sich überlebt. Milde und versöhnlich verklingen ein Leben, ein Werk und eine Welt. Auf die „Erlösung in den Kommunismus“ durch das Volk („Das Kunstwerk der Zukunft“) folgt die gegenseitige Erlösung von Gralsgemeinde und Gralskönig; auf den modernen säkularen Bürgerstaat der meistersingerlichen Festwiese folgt, nach dem Weltenbrand, die postmoderne Utopie der Wiederaufrichtung des sakralen Königtums der Gralsgemeinde.

„Staatendämmerung“ findet indessen heute nicht mehr nur im Feuilleton und auf der Bühne statt. Jenen, die den modernen Staat, der überall vor dem Scheitern steht, gar nicht erst errichtet haben, gehört die Zukunft. Und während Wagner in Bayreuth an der Partitur des „Parsifal“ arbeitete, schrieb sein Pendant Ende Februar/Anfang März 1881 in London im ersten Entwurf des Briefes an Vera Sassulitsch, daß der Kapitalismus sich in einer Krise befinde, „die erst mit seiner Abschaffung, mit der Rückkehr der modernen Gesellschaften zum ‘archaischen’ Typus des Gemeineigentums enden wird“. Übereinstimmung in der Tendenz und zeitliche Nähe geben der Forschung ein weiteres Rätsel auf.

Die Rätsel begleiten uns bis zum Ende: In Wagners Musikdramen sterben die Helden, wenn sie ihr Werk vollbracht haben. Richard Wagner starb am 13. Februar 1883. Einen Monat später, am 14. März, folgte ihm Karl Marx.

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrte bis 2011 Ethnologie an der Universität Bayreuth. Von ihm stammen mehrere, zum Teil auch im Ausland erschienene Aufsätze über das Werk Richard Wagners. Dieser Text hier beendet seine dreiteilige Wagner-Serie in der JF.

Literatur- und Quellenverweise sind in folgendem Beitrag des Autors zu finden: Lohengrins Drachenkampf. Programmheft IV, Bayreuther Festspiele 1993, S. 5-27; Nachdruck in Mythologica. Düsseldorfer Jahrbuch für interdisziplinäre Mythosforschung 8 (2002), S. 11-24.

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