© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/12 24. August 2012

Haß und Grausamkeit ohne Maß
Im finsteren Dschungel der Erzählkunst: Vor hundertfünfzig Jahren wurde der „italienische Karl May“ Emilio Salgari geboren / Die bizarren Abenteuergeschichten spenden dem Leser reine Daseinsfreude
Sebastian Hennig

Nomen est omen gilt für den Wunderkammer-Verlag in Neu-Isenburg. Seit 2008 entläßt er in unregelmäßigen Abständen solide Leinenbände mit ungekürzten Neuübersetzungen der Romane des vor hundertfünfzig Jahren geborenen Emilio Salgari an die deutschen Leser. Mehr als mit dem pietistischen Dorflehrergemüt aus Hohenstein-Ernstthal hat der „italienische Karl May“ mit den Okkultisten H. H. Ewers, Gustav Meyringk und Hans Mahner-Mons gemeinsam. Wer die Geschichten um die alte Schmetterhand aus Sachsen nicht schon als Zwölfjähriger gelesen hat, den lassen sie später kalt. Allein als Vorspiegelung einer fernen gefährlichen Wirklichkeit können auch die bizarren Abenteuer Sandokans und seiner Tiger von Mompracem heute nicht mehr wirken.

Doch bei dem Italiener erweisen sich noch andere Qualitäten. Er räumt die europäische Gesittung gleich ganz beiseite. Das artifizielle Gewebe seines Erzähldschungels saugt die erwachsenen Leser ein, deren finstere Herzen noch nicht völlig vom Goldregen zivilisatorischer Selbstgerechtigkeit durchlichtet sind und die sich das süße Bedürfnis nach grausamen (Gedanken)spielen aus ihrer Knabenzeit herübergerettet haben. Der Haß und die Grausamkeit sind ohne Maß in diesen Abenteuern. Immer ist die Perversion pittoresker als die Harmonie.

Allein ästhetischen und dekorativen Wirkungen ist Salgaris Fabulierkunst verpflichtet. Da können mehrere Gewißheiten der Naturkunde und physische Wahrscheinlichkeiten in nur einem kurzen Satz mißachtet werden, wenn ein kräftiger Fremdling aus dem malaiischen Busch tritt und einen Tiger, den es dort nicht wirklich geben kann, am Schwanz packt und in hohem Bogen von sich schleudert. Dabei bildet der Autor im wesentlichen, Kraft eigener intensiver Lektüre, die Beschaffenheiten jener Gegenden durchaus zutreffend ab.

Eine anthropomorphe Schilderung der Naturwesen wirkt zuerst komisch: „Dort haust das schreckliche Nashorn, alles bereitet ihm Verdruß und schnell ist sein rasender Zorn entfacht.“ Im Laufe der Lektüre erweist sich diese Schrulle als bezeichnende Eigenart eines kaleidoskopischen Blickes, der Zusammenhänge stets in ein reizvolles Sfumato verwischt und dessen konturlose Prosa zwischen Impressionismus und Symbolismus changiert.

Wenn Homer und Voss in der „Odyssee“ die Achaier als „hauptumlockt“ beschreiben, so sind bei Salgari und seiner Übersetzerin Astrid Wurm zwangsläufig die Negritos immer „unansehnlich“. Mit seiner hemmungslosen Erzählflut und seiner wüsten Phantasie ähnelt er Jean Paul. Wie dieser in „Der Titan“ seinen Albano durch Rom irren läßt, mit klar bezeichnetem Lokalkolorit der ewigen Stadt, oder wie Caspar David Friedrich das schroffe Matterhorn herrisch ins Bild setzt, so stößt der Italiener seine Leser zwischen die schrille Tier- und Pflanzenwelt, in die bestürzende Ethno-Pittura des malaiischen Dschungels. Wie jene nimmt er die genaue Kunde für sein irrsinniges Kaleidoskop aus fremden Quellen.

Keiner der drei großen Gestalter stand je vor einem dieser Kultur- und Naturwunder. Sie waren Verwerter fremder Skizzen, die sich an ihren fragilen Schreibtischen zu monumentaler Wirklichkeit auswuchsen.

Es gab den historischen Sandokan ebenso wie den Engländer James Brooke, der sich aus Unzufriedenheit mit der englischen Verwaltung zum weißen Rajah von Sarawak erhob. Während die britischen Kompanien nur auf See fochten, säuberte er die Küste von Piratennestern und respektierte dabei die Gebräuche der indigenen Völker: Seine Dayaks durften weiterhin ihre Häuser mit Köpfen der besiegten Gegner verzieren, die er ihnen zum Feind ermittelt hatte.

Daß Salgaris Erzählen kein metaphorisches Programm enthält, sondern der pragmatischen Logik der Zeitschriftenromane folgt, für die er als Schreibtischsklave Fortsetzungen fertigte, erweist sich als ein Vorzug. Unkommentierte exotische Wortmagie, nahe am phonetischen Nonsens („Das Anwesen des Kapitän Macpherson erhob sich am linken Ufer des Hugli, in der Nähe einer kleinen Bucht, in der mehrere Gongas und auch einige Mor-pankhi lagen.“) und seitenlange wörtliche Rede voll feierlicher Banalität („Und doch schlägt mein Herz, als wollte es zerspringen.“ – „Das sind die Gefühle, Herr.“) kennzeichnen die wirre Handlung.

Das Lesen dieser Bücher spendet dem Leser als einem solchen reine Daseinsfreude. Durch keinen Tiefsinn, keine Pointe wird er diesem paradiesischen Zustand entfremdet. Bewegung und Farbe löscht das Empfinden für Zeit und Raum. Weder Vernescher Technik-Positivismus noch Moral-Episteln Karl Mays oder langatmige historische Exkurse, in denen uns der Graf Tolstoi die Bestimmungen von Krieg und Frieden auseinandersetzt, zerreißen die Permanenz der Handlung.

Diese Hatz der Ereignisse bewirkt im Betrachter Beschaulichkeit. Die Konklusion des Geschehens am Ende des Buches ist keine Auflösung, nur der Schlußstein an einer Zelle des Gewölbes, dessen unterirdische Halle sich in die Unendlichkeit erstreckt: „Geh nur! (…) Wir sehen uns im Dschungel wieder!“

Neben Wunderkammer tritt noch der Münchner Ablit-Verlag mit neuen Salgari-Übersetzungen hervor. „Der schwarze Korsar“ machte im vergangenen Jahr den Anfang, ausgestattet mit neuen Illustrationen von Sven Arne Klinger und der Wiedergabe der Holzstiche der italienischen Originalausgabe. „Die Königin der Kariben“ soll folgen.

Wer sich nicht von Büchern fesseln läßt, der kann es mit einer der zahlreichen Verfilmungen versuchen. Zwei berühmte Fernsehproduktionen mit Kabir Bedi als Sandokan und Kammamuri liegen auf DVD vor.

Während das Geschäft mit seinen Erfindungen immer noch anhält, bereitete der Autor sich selbst nach dem schmerzlichen Verlust seiner Frau ein grausiges Ende. Mit zwei Rasiermessern bewaffnet stieg er in die Hügel um Turin und entleibte sich durch einen Harakiri-Doppelschnitt in Kehle und Eingeweide. Die Verleger ließ er wissen, wie wenig sie ihre Ressource geschont hatten: „Von euch, die ihr mich und meine Familie in ständigem Halb-Elend gehalten habt, erbitte ich nur, daß ihr für mein Begräbnis aufkommt, als Entgelt für den Gewinn, den ich euch eingebracht habe. Ich verabschiede mich, indem ich meine Feder entzweibreche.“

www.wunderkammer-verlag.de

www.ablitverlag.de

Foto: Kabir Bedi in „Die Rückkehr des Sandokan“ (Italien, 1996) nach einer Romanfigur von Emilio Salgari: Bizarre Abenteuer

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