© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Der Flaneur
Gelassen am Gleis
Paul Leonhard

Der Nachtzug nach Budapest steht morgens auf dem Gleis des Regionalexpresses. Altertümliche blaue Wagen. Reisende hetzen die Stufen hoch und erstarren, als sie den Zug sehen. Ein unsicherer Blick zur Anzeigetafel. Sollte hier nicht der Expreß in die 100 Kilometer entfernte Provinzstadt abfahren?

Aus den Wagen klettern zwei Bundespolizisten in blauen Schutzwesten. Sie flüstern etwas in ihre Funksprechgeräte. Aber es scheint nichts Aufregendes passiert zu sein. Ein Mann in orangefarbener Arbeitskleidung läuft von Waggon zu Waggon. Gibt dem Zugführer ein Zeichen. Es ruckt kurz. Ein großer hagerer Schaffner, trotz des gewaltigen Schnurrbarts kein ungarischer, sondern einer der Deutschen Bahn, hebt zwei Finger der rechten Hand. Er signalisiert damit seinem Kollegen, einem untersetzten, gemütlich wirkenden mit Brille, daß er vermutet, daß der Expreß 16 Gleise entfernt von Bahnsteig 2 abfährt.

 „Drüben steht auch ein Nachtzug“, winkt der andere ab. Und der ICE fahre gerade erst raus. Er bleibe hier sitzen, sagt der Untersetzte. Er habe Zeit, und niemand habe gesagt, daß der Expreß von woanders abfährt. Ein dritter Zugbegleiter kommt. „Nimmst du mich mit?“ Der andere schüttelt den Kopf: „Das geht nicht, der Fernverkehr steht noch rum.“

Mühsam setzen sich die blauen Wagen der ungarischen Bahn mit ihren plüschigen Sitzen in Bewegung. Im Lärm des ausfahrenden Zuges geht die Lautsprecherdurchsage fast unter. Der Regionalexpreß fahre heute vom Bahnsteig 11 ab. Drei Dutzend Reisende packen ihre Koffer, Rucksäcke und Taschen. So schnell es geht, hasten sie – darunter ein Blinder mit Begleitung – die steinernen Treppen herunter.

Drei Minuten vor Abfahrt den Ort zu verlegen, das leiste sich nur die Deutsche Bahn, schimpfen sie. Die Zugbegleiter sehen es gelassen, ohne sie werde der Zug schon nicht abfahren – und wenn, dann habe die Bahn eben Pech gehabt.

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