© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Das rätselhafte Ende von Häftling Nummer sieben
Vor 25 Jahren starb Rudolf Heß, letzter prominenter NS-Häftling der Alliierten / Spekulationen über einen Mord an dem 92jährigen verstummten nie
Thorsten Hinz

Die Welt, die am 17. August 1987 die Nachricht vom Selbstmord des 92jährigen  Rudolf Heß empfing, war nicht erschüttert, doch immerhin verblüfft. Grund genug dafür gab es. Der ehemalige Führer-Stellvertreter war im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau der bestbewachte Gefangene der Welt gewesen. Nach offizieller Darstellung mußte er seine Bewacher überlistet, ein Elektrokabel verknotet und sich in einem unbeobachteten Moment  stranguliert haben. War einem hinfälligen, fast erblindeten Greis soviel Wendigkeit zuzutrauen?

Und noch etwas löste Erstaunen aus. Heß befand sich zu dem Zeitpunkt – zählt man seine Internierung in England hinzu – seit 46 Jahren in Haft. Jetzt schien seine Freilassung, die regelmäßig am Veto der Sowjetunion gescheitert war, im Bereich des Möglichen zu liegen Seit Gorbatschows Machtantritt wehte in Moskau ein frischer Wind. Warum sollte Heß sich ausgerechnet in diesem Moment umbringen?

Zahlreiche Persönlichkeiten hatten sich für seine Begnadigung eingesetzt: Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, der Pfarrer Martin Niemöller, der Historiker Golo Mann. Sogar der britische Chefankläger von Nürnberg, Hartley Shawcross, fand die andauernde Inhaftierung skandalös. Die Bundesregierung hatte bei den vier Siegermächten ein Gnadengesuch eingereicht. Bundespräsident Richard von Weizsäcker appellierte in seiner Weihnachtsansprache 1985 eindringlich an die Großherzigkeit des russischen Volkes. Um ein Haar hätte er den Appell in die Ansprache aufgenommen, die er am 8. Mai 1985 im Bundestag hielt. Erst im letzten Moment hatte er die Passage auf den Rat seines damaligen Pressesprechers Friedbert Pflüger gestrichen.

Der Bundespräsident wußte, daß die Inhaftierung fragwürdig war. Sein Vater Ernst von Weizsäcker hatte sich als Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Ribbentrop um die Rettung des Friedens bemüht. Heß war für ihn ein vertrauenswürdiger Ansprechpartner gewesen, in seinen nachgelassenen Notizen und Memoiren wird Heß mehrmals erwähnt. Weizsäcker senior hielt ihn für verschroben und nicht sehr bedeutend, aber keinesfalls für verrückt oder kriegslüstern. Im Gegenteil, Heß erkundigte sich mehrmals bei ihm nach Friedensgerüchten, um, wie der Staatssekretär annahm, sie auf ihre Substanz zu prüfen.

Als Heß im Mai 1941 seinen bis heute geheimnisumwitterten Flug nach England unternahm, hatte Weizsäcker keinen Zweifel, daß es ihm darum ging, einen friedlichen Ausgleich mit England herbeizuführen. Weiter mutmaßte er, daß Heß den „Führer“ zwar nicht informiert habe, sich aber im stillschweigenden Einverständnis mit ihm glaubte. Die Methode hielt Weizsäcker für vergeblich, doch fand er es schäbig, daß alte Weggenossen sich plötzlich bereit fanden, Heß „üble Charakterdefekte“ nachzusagen.

Was Ernst von Weizsäcker damals kombinierte, bildet bis heute den Stoff für Spekulationen. Unterbreitete Heß den Engländern ein von Hitler indirekt autorisiertes Friedensangebot, dessen Annahme die Eskalation zum Weltkrieg und zum Massenmord verhindert hätte? Der Bundespräsident sagte 1985 in seiner Weihnachtsansprache, die Verurteilung des Hitler-Stellvertreters in Nürnberg zu lebenslanger Haft entspräche „unserem Rechtsempfinden“. In Wahrheit war die Urteilsbegründung haarsträubend. Heß war in allen vier Punkten angeklagt gewesen: Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In den Punkten drei und vier wurde er freigesprochen.

Als Beleg für seine Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden wurde angeführt, er hätte „den Vorbereitungen für den Krieg aktive Unterstützung“ gewährt. Herangezogen wurden unter anderem seine Unterschrift unter das Wehrdienstgesetz von 1935 sowie eine Rede vom August 1939, in der er Polen vorwarf, zum Krieg aufzuhetzen und England für die polnische Haltung verantwortlich machte. Der sowjetische Richter, für den die Justiz ohnehin nur ein Instrument zur Ausschaltung oder Vernichtung politischer Gegner war, verlangte für Heß die Todesstrafe. Dagegen sträubten sich die wirksamen Reste angelsächsischen Rechtsempfindens, worauf das Gericht sich auf lebenslang einigte.

Seitdem 1966 mit Baldur von Schirach und Albert Speer die beiden letzten Mitgefangenen entlassen wurden, war Heß der einzige Gefangene im Spandauer Gefängniskomplex. Die Haftbedingungen entsprachen einer Isolationsfolter, die auf die Zerstörung der Persönlichkeit abzielte. Das Personal durfte ihn nicht mit Namen ansprechen, sondern hatte ihn mit „Nummer sieben“ anzureden, unter der er registriert war. Unbeobachtete Unterhaltungen mit Angehörigen waren ihm verboten, der Briefverkehr und die Lektüre einschließlich der Zeitungen wurden zensiert. Gespräche über das Dritte Reich waren untersagt, Historiker, denen er gewiß Interessantes mitzuteilen hatte, erhielten keinen Zugang. Offenbar sollte er daran gehindert werden, die Hintergründe und Details seines Englandfluges preiszugeben.

Zahlreiche Umstände und Widersprüche sprechen gegen die Selbstmordthese. Heß konnte sich nicht mehr allein aufrichten und kaum noch gehen. Wegen einer Arthritis war er außerstande, einen Löffel in den Händen zu halten. Wie sollte er da einen Knoten binden? Als er starb, war zu seiner Aufsicht ausgerechnet ein amerikanischer Aufseher abgestellt, den er fürchtete und um dessen Entlassung er kurz zuvor noch gebeten hatte. Der Münchner Pathologe Wolfgang Spann stellte an der Leiche Strangulationsmerkmale fest, die sich nicht auf Erhängen zurückführen ließen und von den britischen Kollegen zuvor übersehen worden waren. Der Krankenpfleger Abdallah Melaouhi, der Heß seit 1982 betreute und sich Zugang zum Fundort der Leiche verschaffte, war sofort davon überzeugt, daß man Heß umgebracht hatte. In dem Buch „Ich sah den Mörder in die Augen!“ schreibt er auch, daß die sowjetische Seite Heß’ Entlassung angedeutet hätte, was bei diesem statt Freude die Furcht auslöste, getötet zu werden, weil er zuviel wußte.

Die Mordthese gilt heute als rechtsextreme Verschwörungstheorie. Das war 1987 noch ganz anders. Die in- und ausländischen Medien erörterten ausgiebig die Todesumstände, und die britische Justiz leitete ein Ermittlungsverfahren ein. Am 13. August 1989 meldete die deutsche Presse die Einstellung des Verfahrens. Das Datum kann durchaus symbolisch verstanden werden: Es war der 28. Jahrestag des Mauerbaus und zugleich der letzte, dessen die SED-Führung und die heimlichen Mauerfreunde in den westeuropäischen Staatskanzleien sich erfreuen durften. Das Gebäude der Nachkriegsordnung in Europa wankte. Wenigstens ihr geschichtspolitisches Fundament sollte erhalten werden.

Die britischen Geheimakten über Rudolf Heß sind bis 2017 geschlossen. Wird man danach die volle Wahrheit erfahren?

 

Kriegsverbrechergefängnis Spandau

Die aus der Kaiserzeit stammende Festungshaftanstalt für Militärangehörige wurde 1947 von den Alliierten übernommen. Nach den Nürnberger Prozessen wurden die sieben zu Haftstrafen verurteilten Hauptkriegsverbrecher (Rudolf Heß, Albert Speer, Baldur von Schirach, Konstantin Freiherr von Neurath, Walter Funk, Erich Raeder) dort inhaftiert. Von 1966 bis 1987 war Rudolf Heß einziger Häftling der vier alliierten Siegermächte. Unmittelbar nach dessen Tod wurde der umfangreiche Backsteinbau abgerissen, die Trümmer pulverisiert und in der Nordsee verklappt.

Abdallah Melaouhi: „Ich sah dem Mörder in die Augen!“ Die letzten Jahre und der Tod von Rudolf Heß. Edition Märkische Raute, Bochum 2009, gebunden, 224 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro

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