© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/12 17. August 2012

Pankraz,
Boccaccio und die verlegte Renaissance

Bisher herrschte unter den Forschern Übereinstimmung darüber, daß die Epoche der Renaissance und des klassischen Humanismus im 14. Jahrhundert begonnen habe, mit Gestalten wie Petrarca (1304–1374) und Boccaccio (1313–1375). Jetzt kommt ein Buch aus Amerika mit dem Titel „Die Wende. Wie die Renaissance begann“ von Stephen Greenblatt (Siedler Verlag, München, 345 Seiten, 24,99 Euro), welches das Ereignis um Jahrzehnte zurückverlegt und dadurch regelrecht verfälscht.

Greenblatt behauptet, erst mit der Auffindung einer Abschrift von Lukrezens in der Antike berühmtem Lehrgedicht „De rerum natura“ (Über die Natur) in einem deutschen Kloster im Jahre 1417 habe sich das „finstere Mittelalter“ schlagartig in die neue „Zeit der Aufklärung“ verwandelt, denn Lukrez (wahrscheinlich 97 v. Chr. bis wahrscheinlich 55. v. Chr.) sei ein echter „Materialist“ in der Tradition von Demokrit und Epikur gewesen, der nur an den ewigen Tanz der Atome glaubte. Und was sei die Renaissance denn anderes gewesen als die Ersetzung der Götter durch rein materielle Atome?

Deutsche Rezensenten zeigen sich von dem Buch durch die Bank schwer beeindruckt; einige lobten es sogar in den höchsten Tönen, was auch daran liegen mag, daß es als eine Art Wissenschaftskrimi aufgezogen ist,  wo finstere Pfaffen, allen voran der heilige Hieronymus, schier alles tun, um die Lehren des Lukrez zu unterdrücken und sein Gedicht möglichst vollständig und für immer aus der Welt zu schaffen. So etwas macht sich heutzutage immer gut.

Wer Greenblatts „Wende“ freilich ernst nimmt, erhält einen völlig falschen Eindruck von dem, was in der Renaissance geschah. Es ging den Petrarca und Boccaccio um nichts weniger als um eine Auseinandersetzung über Materialismus oder Idealismus, ihre große Leidenschaft galt vielmehr der Reformation des damaligen scholastischen Universitätsbetriebs, der Abschaffung des dort üblichen Getüftels und leeren Logifizierens. „Hinwendung zu den Sachen selbst durch Mobilisierung aller inneren Gefühls- und Geisteskräfte“ hieß die Parole, „Sich-Vereinigen mit der Natur, so wie sie sich uns wirklich sinnlich darbietet“.

Ein wichtiges Moment dieses neuen Denkens war das Interesse für, ja die Gier nach vorscholastischen Codices und Schriftrollen, es begann ein geradezu detektivisches Suchen und Stöbern nach solchen Kostbarkeiten in allen möglichen abgelegenen Klöstern und Abteien. Die Entdeckung des Lehrgedichts von Lukrez war nur ein einziges (wichtiges) Detail in der langen Kette vieler ähnlicher Entdeckungen, und sie wurde vor allem ernst genommen als hochwillkommene Auskunftei über frühantike Geistesgrößen wie eben Demokrit und Epikur, von denen man bisher nur durch ungewisses Hörensagen gewußt hatte.

Gänzlich ignoriert wird in der Schwarte von Greenblatt, daß die Renaissance in erster Linie kein wissenschaftlich-diskursives, sondern ein künstlerisch-ästhetisches Ereignis war. Es ging in erster Linie um neue Perspektiven der Architektur und der bildenden Kunst, die in gewaltigen Schöpfergestalten ihre Ausprägung fanden. Doch auch im Reich der Sprache dominierten eindeutig die Dichter vor den Logikern und Metaphysikern.

Boccaccio etwa verteidigte sein Leben lang die Dominanz der „Dichtkunst“ über alle übrigen Sprachgattungen. Er erklärte sie ausdrücklich zur „Krone aller Wissenschaften“, da sie bei der Erlangung von Weisheit und Tugend stets die maßgebliche Rolle spiele, Geist und Herz gleich stark ergreifend. Später in Florenz bei den Medici stimmten ihm die dortigen Mitglieder der neuen Renaissance-Akademie, Ficinus und Pico della Mirandola, vorbehaltlos zu, obwohl sie selbst gar keine Dichter, sondern erklärte Philosophen waren.

Übrigens wurde auch das Lehrgedicht von Lukrez nach seiner Wiederentdeckung in erster Linie als ästhetisches Ereignis gefeiert. „De rerum natura“ ist ja das älteste erhaltene lateinische Lehrgedicht überhaupt, und die Qualität seiner Hexameter sowie die raffinierte Anordnung seiner sechs Bücher, die sich angeblich geheimnisvoll ineinander spiegeln, beschäftigte die Interpreten weit mehr als die dogmatischen philosophischen Aussagen. Diese sind, wie gesagt, von den alten Atomlehren der Leukipp und Demokrit übernommen, und die interessierten zur Zeit der Renaissance so gut wie niemanden.

Insofern ergibt sich eine interessante Parallele zur heutigen Zeit. Die einstige, „materialistisch-aufklärerische“ Begeisterung für die Erklärungskraft des Atommodells in Bezug auf das, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist mittlerweile vollständig erloschen. Es gibt für die moderne Wissenschaft kein letztes, unteilbares materielles Teilchen (nichts anderes bedeutet das Wort „Atom“), aus deren Gesamtmasse die Welt besteht,  es gibt stattdessen – wie die Physiker sagen – nur „Geschmäcke“ (flavors), „Farben“ (colors), „Gesten“ (gestures), deren „Masse“, geschweige denn Materialität  äußerst ungewiß ist.

Der junge Schelling hat anno 1799 nach der ersten Lektüre der Lukrezschen „Natura“ eine stürmische Widerrede zu Papier gebracht, ebenfalls in Versen: „Epikureisches Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens“. Darin wischte er – sehr prophetisch – die ganze Atomhuberei der Demokrit und Lukrez einfach beiseite. Wo etwas Geschaffenes ist, so dichtete er, da ist auch ein Schöpfer, es gibt also einen Schöpfer, und dessen Kraft können wir Menschen direkt erspüren, weil sie auch in uns Menschen lebt.

„Hinauf zu des Gedankens Jugendkraft, / Wodurch Natur verjüngt sich wieder schafft! / Ist eine Kraft, ein Pulsschlag nur, ein Leben, / Ein Wechselspiel von Hemmen und von Streben“. So also dichtete Schelling. Man kann darüber streiten, ob das „wissenschaftlich“ ist oder bloße Spinnerei. Daß es aber dem Geist der Renaissance voll entspricht, sich mit Petrarca und Boccaccio geradezu verschwistert – darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel. Das kann auch die „Wende“ des Krimi-Verkäufers Greenblatt nicht ändern.

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