© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Deutsche Anthropologie
Das Faust-Syndrom
Andreas Vonderach

Unter einem Volk versteht man eine größere Gruppe von Menschen, die durch eine gemeinsame Geschichte und Abstammung, ein Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl), eine gemeinsame Kultur und in der Regel auch durch eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Territorium miteinander verbunden sind.

Daß die Angehörigen eines Volkes in starkem Maße miteinander verwandt sind, kommt im Phänomen des Ahnenschwundes zum Ausdruck. Jeder von uns hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern – und so fort. In der zehnten Vorfahrengeneration, also in der Zeit um 1700, sind es bereits 1.024 Ahnen, in der zwanzigsten um 1400 schon mehr als eine Million, und zur Zeit Karls des Großen um 800 beträgt die Zahl der theoretischen Ahnen sogar schon mehr als eine Billion (1.000 Milliarden). Daß aber um diese Zeit in Deutschland kaum mehr als zwei Millionen Menschen lebten, zeigt, daß wir alle sehr viele gemeinsame Vorfahren haben.

Die meisten unserer Ahnen sind dies gleich mehrfach, über verschiedene genealogische Linien zugleich. So kommt im Jahr 1500 jeder Vorfahr durchschnittlich etwa viermal unter den Ahnen einer heute lebenden Person vor, im Jahr 1300 bereits etwa fünfzigmal und im Jahr 1000 schon mehrere tausendmal.

Daraus ergibt sich, daß zum Beispiel alle Deutschen fast sämtliche vor dem Jahr 1200 lebenden Ahnen gemeinsam haben. Nach einem neueren Modell beträgt unabhängig von der Populationsgröße einer Fortpflanzungsgemeinschaft ab der vierzehnten Vorfahrengeneration, also etwa um 1590, die Wahrscheinlichkeit, daß eine Person alle Volksangehörigen dieser Zeit, die Nachkommen hinterlassen haben, als Vorfahren hat, mehr als 99 Prozent.

Die Auffassung von Völkern als Abstammungsgemeinschaften steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß viele Völker unterschiedliche anthropologische Elemente in sich aufgenommen haben, und so etwa die Deutschen auch nichtgermanische Vorfahren haben. Die genealogische Einheit wird ja durch die Endogamie innerhalb des Volkes kontinuierlich hergestellt. Wer zum Beispiel heute in Deutschland einen hugenottischen Namen trägt, hat unter seinen Vorfahren nur eine kleine Minderheit von französischen Ahnen, ist also auch biologisch ein Deutscher und kein Franzose.

Eine Folge der großen Verwandtschaft innerhalb eines Volkes ist, daß die Volks- und Sprachgrenzen zu anderen Völkern, die ja immer auch Heiratsgrenzen waren, auch heute noch ausgeprägte Grenzen in der Verteilung genetischer Merkmale sind. Das gilt auch für die deutsch-romanischen und die deutsch-slawischen Sprachgrenzen in Mitteleu­ropa. Eine andere Folge ist, daß sich die Menschen aufgrund ihrer genetischen Merkmale recht gut ethnisch zuordnen lassen.

So kann man auch die Deutschen (einschließlich Österreich) zu 64,4 Prozent richtig zuordnen. Die restlichen 35,6 Prozent stellen Überschneidungen ausschließlich mit unseren Nachbarvölkern dar. Die gemeinsame Abstammung ist also mitnichten ein fiktives Konstrukt, wie oft behauptet wird, sondern sehr real.

Die verwandtschaftlichen Beziehungen im Volk stellen die eigentliche Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts dar. Nach den begründeten Annahmen der Soziobiologie unterstützen wir unsere Verwandten, weil wir mit ihnen gemeinsame Gene haben. Je heterogener eine Gesellschaft in ethnischer und genetischer Hinsicht ist, desto unsolidarischer, rücksichtsloser und gewalttätiger ist sie auch. Fremdheit in Aussehen und Verhalten führt zu Distanzierung. Völker sind Solidargemeinschaften, die auf Verwandtschaft beruhen.

Die Deutschen stammen bekanntlich von den Germanen ab. Das Wort „thiutisk“ (deutsch) war ursprünglich gleichbedeutend mit germanisch. Es wurde auch für die Angelsachsen, die Langobarden und die Goten verwandt. Um 830 nach Christus schrieb Frechulf in seiner Weltchronik, daß die Franken, die Goten und alle anderen nationes theotiscae aus Skandinavien stammten.

Nicht nur unsere Sprache ist germanisch. Die germanische Herkunft der Deutschen kommt auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild, der Physiognomie und der relativen Häufigkeit heller Haar- und Augenfarben zum Ausdruck. Genetische Untersuchungen zeigen, daß die Deutschen den Schweizern, Österreichern, Niederländern, Dänen, Schweden, Norwegern und Engländern am ähnlichsten sind. Bemerkenswerterweise ist der genetische Abstand zu den Polen und Tschechen (mit Slowaken) größer als zu den Franzosen oder Italienern.

Völker unterscheiden sich jedoch nicht nur in ihrem Äußeren und ihrer Sprache, sondern auch in ihrem Wesen. Aussagen über Volkscharaktere werden heute oft als Vorurteile oder Stereotypen abgetan. Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen, daß es auch im Verhalten Unterschiede zwischen den Völkern gibt, die oft die Stereotypen bestätigen.

So zeigt eine Untersuchung des Psychologen Peter R. Hofstätter, daß zwischen der durch Tests ermittelten Durchschnittsintelligenz in den österreichischen Bundesländern und dem Ruf, den sie in Hinblick auf ihre Intelligenz haben, eine Korrelation von 0,71 besteht. Das heißt, zwischen Stereotyp und Wirklichkeit besteht ein mittlerer bis starker statistischer Zusammenhang. Dabei sind die Stereotypen das Ergebnis eines kollektiven kognitiven Prozesses, in den die Erfahrungen vieler Einzelner eingehen.

Die Ergebnisse der Kulturvergleichenden Psychologie zeigen, daß sich die Völker in ihren Einstellungen und ihrem Verhalten unterscheiden. Die Deutschen sind zunächst einmal abendländische Europäer. Mit diesen haben sie ihren Individualismus gemeinsam. Der Einzelne sieht sich zuerst als Persönlichkeit und dann erst als Angehöriger einer Gemeinschaft. Alle außereuropäischen Kulturen einschließlich Südosteuropa und Rußland sind dagegen kollektivistisch geprägt. Zu den Eigenschaften der Europäer gehört außerdem die Überzeugung, daß es eine Wirklichkeit gibt, die verstehbar und beherrschbar ist, sowie eine aktive Einstellung zum Leben. Ebenso wie die Sachlichkeit der Kommunikation, die in außereuropäischen Kulturen eher indirekt ist und sozialen Zwecken dient.

Innerhalb Europas gibt es ein ausgeprägtes Nord-Süd-Gefälle. Die Bewohner des Südens sind leidenschaftlicher und erregbarer, lebhafter und geselliger, die des Nordens ruhiger und introvertierter. Im Norden ist das Bedürfnis nach Reflexion größer, das Gefühl überwiegt über die Leidenschaft, das Interesse an Sachen das an Menschen. Es handelt sich um Unterschiede in der Häufigkeit und Stärke eines Merkmals, nicht um absolute Unterschiede zwischen den Völkern. Diese Häufigkeitsunterschiede bewirken eine jeweils charakteristische Atmosphäre, eine Lebensstimmung einer Nation, die von Fremden intuitiv wahrgenommen wird.

Das deutsche Sprachgebiet stellt nicht nur in anthropologischer Hinsicht eine Ausbuchtung nördlicher Merkmale nach Süden dar, sondern auch in psychologischer. Nicht nur unsere Nachbarn im Westen und Süden, auch die im Osten bescheinigen uns einen Mangel an Impulsivität und Temperament. Damit verbunden ist ein stärkeres Bedürfnis nach Einsamkeit, nach dem Für-sich-Sein des Einzelnen. Nicht nur die Franzosen und Italiener, auch die Polen und Russen sind geselliger als wir.

Der deutsche Ernst wird im Westen, im Süden und im Osten als uns besonders eigentümlich empfunden. Daß hier nicht nur kulturelle Traditionen, sondern auch das biologische Temperament eine Rolle spielt, zeigt die Tatsache, daß man bei Untersuchungen in verschiedenen Teilen Deutschlands eine Korrelation von heller Pigmentierung und introvertiertem Charakter fand. Zudem findet sich der Temperaments­unterschied zwischen Nord- und Süd­europäern schon bei Neugeborenen.

Es gibt aber auch ein psychologisches West-Ost-Gefälle in Europa, von der Konvention im Westen zur Emotionalität im Osten. Erscheinen die Franzosen den Deutschen leicht als oberflächlich, so die Deutschen den Polen und Russen leicht als pedantisch, weil zuviel auf Ordnung, auf Form haltend. „Wo der Deutsche Dinge sieht, empfindet der Pole Gefühle“, schrieb der polnische Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski (1868–1927). Ähnlich im Geistigen, wo von West nach Ost auf den Rationalismus der Franzosen und den Utilitarismus der Engländer die Romantik und der Idealismus der Deutschen, der religiöse Mystizismus der Russen folgt, die moralische Selbstzerfleischung Tolstois und Dostojewskis.

Manche Charakterzüge der Deutschen gehen noch auf die alten Germanen zurück. Der Althistoriker Alexander Demandt verweist auf den germanischen Trotz, den germanischen Eigensinn: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ So hat die Reformation darin ihre Wurzel, daß die Korruptheit der mittelalterlichen Kirche den Deutschen weniger erträglich als etwa den romanischen Völkern war. Dostojewski nannte die Deutschen das protestierende Volk.

Auch die hohe Wertschätzung der Germanen gegenüber Frauen, gehört dazu. Salvian bestätigte, daß die Germanen bei der Eroberung Roms im 5. Jahrhundert die römischen Frauen nicht anrührten. Es gibt eine lange demokratische Tradition in Deutschland, von den alten Germanen über die Selbstverwaltung in den Städten und Dörfern des Mittelalters bis zum Genossenschaftswesen im 19. Jahrhundert. Der Staat ist in der deutschen Auffassung die Sache der Gemeinschaft. Die deutschen Fürsten waren in der Regel keine Tyrannen, weshalb es hierzulande keine Revolution gab wie in Frankreich.

Eine Folge der geringen Impulsivität ist die geringe Neigung zu Gewalttaten. Seit Einführung der Kriminalstatistik im 19. Jahrhundert weisen Deutschland und die germanischen Länder eine geringere Gewaltkriminalität als die romanischen und osteuropäischen Länder auf, woran sich bis heute nichts geändert hat.

Mit dem introvertierten Charakter hängt das Ernstnehmen des Lebens zusammen. Normen und Überzeugungen werden in stärkerem Maße verinnerlicht als in Süd- oder Osteu­ropa, wo man gerne auch einmal fünf gerade sein läßt. Es herrscht ein großes Bedürfnis nach Ordnung, die nicht bloß Konvention ist, nach Authentizität. Der Deutsche will nicht nur sein Leben genießen, er will ein sinnvolles Leben führen. Daher die Arbeitsamkeit, das Aktionsbedürfnis, der Schaffensdrang. Der Franzose Bernard Nuss nennt es das Faust-Syndrom. Der deutsche Gelehrte will wie Faust das Wesen der Dinge ergründen. Verbreitet ist die Neigung zur Innenschau, zum Grübeln und Nachdenken.

Ein Hauptzug des deutschen Denkens ist seine Sachlichkeit. Man ist ehrlicher und direkter, zur Not auch einmal unhöflich. Schon im Mittelalter in ganz Europa bekannt war die technische Begabung der Deutschen. Wir sind das Volk der Tüftler und Bastler. „Die Deutschen haben den Affen erfunden“, hieß es in Rußland. Der IQ der Deutschen liegt wie der der Nordeuropäer etwas über dem europäischen Durchschnitt. Die introvertierte Charakterstruktur begünstigte Erscheinungen wie die deutsche Innerlichkeit, den Pietismus und die Romantik.

Viele in Deutschland entstandene Bewegungen wie die Heimatbewegung, der Naturschutz und der Sozialstaat bemühten sich, der Entfremdung in der kapitalistischen Moderne entgegenzuwirken. Die deutsche Kultur stellt so gesehen ein notwendiges Korrektiv des westlichen Kapitalismus dar.

 

Andreas Vonderach, Jahrgang 1964, Historiker und Anthropologe, war an verschiedenen norddeutschen Museen tätig und lebt heute als Buchautor und Publizist in Oldenburg. Zuletzt erschien „Sozialbiologie“ (Schnellroda 2012).

Andreas Vonderach: Die deutschen Regionalcharaktere. Husum Druck, Husum 2012, kartoniert, 204 Seiten, 19,95 Euro. Der Autor belegt empirisch, daß vielen landläufigen Stereotypen reale Verhaltensunterschiede zugrunde liegen.

Foto: Unbändiger Forscherdrang: Faust verkörpert den deutschen Gelehrten, den ewigen Sinnsucher

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