© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Das Dorf war seine Heimat
Ein märkischer Landmann: Kommenden Dienstag wäre der Schriftsteller Erwin Strittmatter hundert Jahre alt geworden
Heino Bosselmann

Der Vorname Tinko wurde in der DDR der siebziger Jahre offiziell standesamtlich zugelassen. Es dürfte ihn, wie so vieles andere, nur dort gegeben haben, zurückgehend auf ein 1954 erschienenes Jugendbuch Erwin Strittmatters, das schon das Lebensthema des Autors anklingen läßt, die „Schicksalskutsche“ der eigenen Biographie vor dem Hintergrund der großen Umbrüche, insbesondere in der DDR-Landwirtschaft. Das hat dem Autor das Etikett eines sozialistischen Heimatdichters eingebracht und verkürzt ihn ebenso wie die Fixation der Nachwendezeit auf seine Vergangenheit als Angehöriger eines SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiments und ein paar Jahre als Stasi-Informant.

Erwin Strittmatter war, darin wird man Brecht recht geben, ein außerordentlich plastischer Erzähler, bilderreich und kräftig, also alles andere als ein angepaßter sozialistischer Realist, der sterile positive Heldenfiguren produzierte, wenngleich sein Werk ohne die Kulturpolitik der DDR natürlich nicht zu denken ist. Die damit verbundene Zerrissenheit, an der er bis in Selbstmordgedanken hinein litt, spiegeln vor allem die gerade vorgelegten Tagebücher von 1954 bis 1973 wider.

Strittmatter, der 1947 in die SED eingetreten war, sah absolut klar darin, daß er dort von „Dogmatikern“, „Kunstfremden“ und „Partei-Katholiken“ umgeben war – allesamt mit Namen benannt: Lektoren, Funktionäre, Minister, bis hinauf zum Generalsekretär. 1972 notiert er: „Wenn ich jetzt aus der Partei austreten würde, wonach mir ist, weil ich die letzten Jahre meines Lebens gern außerhalb der Sekte zubrächte, (…) würde ich lange Zeit nicht schreiben können. Niemand wäre geholfen. Wieder würde sich zeigen, daß jedes Prinzip tödlich ist.“

Später setzt er erstaunlich offen fort: „Ich bin kein Marxist mehr, aber auch kein Gegner des Marxismus. Bevor ich Marxist wurde, hatte ich instinktiv erkannt, daß der M. für mich keine zureichende Philosophie abgibt. Alsdann unterlag ich unter der Wucht der deutschen Kriegsschuld den Suggestionen der Vereinfacher. Wie stark sie doch ist (…), zumal die Völker der halben Welt sich darin einig waren, die Deutschen Verbrecher zu nennen, die sich der tiefen Reue und Umkehr zu befleißigen haben. Wenn man ehrlich zugibt, dieser politischen Suggestion gefolgt zu sein, hat man kaum ein Recht mehr, die Mitläufer Hitlers zu verdammen.“

Dennoch gegen alle Widerstände anschreiben zu können, dabei half ihm seit 1954 seine Zurückgezogenheit auf dem Schulzenhof, einem bäuerlichen Refugium, wo er mit seiner Frau Eva, den Kindern und sechzehn Pferden lebte. Mußte er zu Sitzungen nach Ost-Berlin, sehnte er sich ins Ruppiner Dorf in der Nähe des Stechlin zurück.

Aufgewachsen in der noch sorbisch geprägten Lausitz, wo seine Eltern einen Krämerladen mit Bäckerei besaßen – Vorbild seiner letzten Romantrilogie „Der Laden“ – , entwickelte sich Strittmatter in der Nachkriegszeit als literarischer Autodidakt, mit seinem Erstlingsstück „Katzgraben“ von Brecht protegiert, später aber in der klassischen Literatur, in Tolstoi, Mann, Solschenizyn und Hemingway Vorbilder suchend und Goethe wie Rilke verehrend.

Die selbstbezogener als er auftretenden Autoren blieben dem Landmann Strittmatter suspekt. So verursachte ihm die Lektüre der Großschriftstellerin Christa Wolf „bei so viel vorgegebenem Tiefsinn Kopfschmerzen“, Stefan Heym empfand er als „impertinent“, Stephan Hermlin als „mit intellektuellem Hochmut gesegnet“; Günter Grass’ „mittelmäßiger literarischer Produktion“ gewann er nichts ab, ebensowenig wie dem „Grünschnabel, Schwätzer und ignoranten Klugscheißer“ Enzensberger. In Heiner Müller sah er einen „Revolluzzer und Konterrevolutionär“, und Peter Hacks schmähte er als „Konvertiten“. Aber er empfand ja sogar Kafka als „scheußlich“ und ließ als Lyrikerin nur seine dritte Frau Eva gelten, die als Dichterin „alle in Deutschland zur Zeit lebenden Lyriker hinter sich gelassen“ hätte.

Sein Metier blieb das Leben der sogenannten einfachen Leute, aber er idyllisierte dabei nicht Philemon und Baucis, sondern versuchte vielmehr zu zeigen, wie sie in den Turbulenzen des Zeitlaufs zu Gestaltern – und zu Opfern! – des Geschichtlichen wurden. Vielleicht ist genau dies das „Sozialistische“ an seiner breit angelegten Prosa, die sich stets am Material der eigenen Biographie bedient.

Mit ihren sprechenden Namen sind die Helden sympathischerweise Eigenbrödler, Käuze und Schelme: „Ole Bienkopp“, zwar kommunistischer Kleinbauer, vor allem aber Träumer. Ebenso wie sich die Hauptfigur der „Wundertäter“-Trilogie, Stanislaus Büdner, genau wie der Autor selbst vom poetisierenden Bäckergesellen zum kritischen Schriftsteller entwickelt, stets konfrontiert mit der Feigheit von oben, dem Karrierismus, der Scheu vor Verantwortung und der literarisch-kulturellen Zurückgebliebenheit der Genossen in ihrer Partei- und Kadergläubigkeit.

Endlich die letzte Trilogie, „Der Laden“, eine deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte als Dorfchronik, der Niederlausitz ein literarisches Denkmal von Rang setzend, kongenial von Jo Baier verfilmt. Aber auch die novellistischen und kürzeren Stoffe, der „Schulzenhofer Kramkalender“, die Pferdegeschichte „Pony Pedro“, das „3/4hundert Kleingeschichten“ und die „Nachtigall-Geschichten“ sowie „Meine Freundin Tina Baabe“ können durchaus heute als empfehlenswerte Lesestoffe von lebensklugem Tiefgang, sensiblem Einfühlungsvermögen und frischem Witz gelten.

Es verärgerte Strittmatter schon, daß er für seinen mäßig kritischen „Ole Bienkopp“ nur den Nationalpreis dritter Klasse bekam – den höchsten erhielt er immerhin 1976 für sein Gesamtwerk –, und es nervte ihn, wenn der Chef des Aufbau-Verlags Klaus Gysi monierte, er schriebe mit der „Tendenz, daß unser Leben ohne Partei- und Staatsapparat auskommen könnte“.

Seine Kriegserlebnisse reflektierte Strittmatter indessen nie offen, auch nicht im Tagebuch, im Gegenteil, er deutete sie um, weil er zwar selbstkritisch, aber gleichfalls sich selbst legitimierend mit Bedacht für spätere Leser schrieb. So stellte er sich als Deserteur dar, der in Böhmen die weiße Fahne gehißt und dessen Gewehr nie eine Kugel verlassen hätte. Tatsächlich war er mit seinem Polizei-Gebirgsjäger-Regiment, das Anfang 1943 den Zusatz „SS“ erhielt“, in der Partisanenbekämpfung in Griechenland und Slowenien eingesetzt, wie im Juni 2008 durch einen Zeitungsaufsatz des Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Werner Liersch bekannt wurde. Trotzdem hielt Strittmatter bis zum Ende des Lebens im Januar 1994 weiter an seinen Legenden fest.

Ebenso verdrängte er die Stasi-Mitarbeit. 1973: „Die Staatssicherheit schickte schon wieder jemand. Wann hört das auf? Was wollen die Schnüffler von mir.“ Kein Wort davon, keine Auseinandersetzung damit und auch später nichts darüber, daß er von 1958 bis 1964 vom Ministerium für Staatssicherheit als Geheimer Informant geführt wurde und offenbar bereitwillig berichtete. Unheilvolle Ambivalenzen und selbstbetrügerische Rechtfertigungen mögen typisch sein für ein Leben in der Diktatur, die Strittmatter gerade angesichts der Borniertheit ihrer Funktionäre durchschaute, andererseits aber als vermeintlich historische Chance annahm, da ihm – wie vielen seiner Generation – ein Bruch mit dem Alten unabdingbar erschien.

Über die Verhaftung der „guten Kommunisten“ der Anti-Ulbricht-Fraktion Wolfgang Harich, Walter Janka und Martin Just war Strittmatter zunächst erschüttert, aber nur Tage später hielt er scheinbar mitleidlos fest: „Dummheit mußte bestraft werden.“ Durchweg hegte er einen Widerwillen gegen „Funktionen“, war aber von 1959 bis 1961 erster Sekretär des Schriftstellerverbandes und quälte sich mit den dazu erforderten Verrenkungen. Er begrüßte den Bau der Mauer als souveränen Akt der DDR gegen Abwanderung, und 1976 soll er die Ausweisung des Dichters Reiner Kunze befürwortet haben.

Strittmatters Schaffensphase fällt in jene Jahre, die die DDR-Literaturgeschichte optimistisch als „Ankunftsliteratur“ bezeichnete. War er je angekommen? Mehr als in der DDR dürfte er in Schulzenhof zu Hause gewesen sein. Er hätte in zwei Diktaturen gelebt, die einander ablösten, läßt sich das Tagebuch von 1980 zitieren: „Die zweite war eine, die ich nach anfänglichem Zögern für einige Jahre bejahte, bis ich erkannte, daß sie nicht die Diktatur einer Klasse, sondern, wie die vorhergehende, Diktatur einer Clique war. Sie zwang mich, nach dem Schema: Eins hin – zwei im Sinn – zu schreiben, und die Zwei im Sinn konnte ich nicht einmal in voller Schärfe ins gar und gar persönliche Tagebuch schreiben. Ich mußte an Haussuchungen und heimliche Schnüffler denken.“ Mitunter erinnert Strittmatter an Fallada. Er war vom Erdigen, von der Natur, der Landschaft, den Tieren, der Arbeit inspiriert. Der Sozialismus kam ihm dabei eher in die Quere.

Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973. Aufbau Verlag, Berlin 2012, gebunden, 600 Seiten, 24,99 Euro

Foto: Erwin Strittmatter vor einer Lesung in Weimar im September 1992: Sein Werk ist ohne die Kulturpolitik der DDR nicht zu denken

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