© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Lockerungsübungen
Scheitern ist erlaubt
Karl Heinzen

In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind erstmals mehr als 25 Prozent des deutschen Strombedarfs aus erneuerbaren Energien gedeckt worden. Um deren rasant wachsenden Anteil nutzen zu können, sind jedoch massive Investitionen erforderlich, bis der Atomausstieg in zehn Jahren abgeschlossen ist. Insbesondere gilt es, den Süden unseres Landes durch neue Hochspannungsleitungen mit den Windkraftanlagen des Nordens zu verbinden. Der Ausbau dieses Netzes kommt aber nur schleppend voran. Gerade einmal 214 von den bisher geplanten 1.834 Kilometern sind fertiggestellt. Bei der Hälfte der Bauprojekte zeichnen sich Zeitverzögerungen von bis zu fünf Jahren ab. Wird dieser Mißstand nicht behoben, könnten Versorgungsengpässe drohen. Der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, sieht daher „Handlungsbedarf“ für die Politik und warnt vor verschärften Umweltauflagen, die zu neuen Verzögerungen führen.

Die Bundesregierung wird ob dieser Kritik aber nicht in Panik verfallen müssen. Der Atomausstieg erfolgt im Konsens aller Parteien. Die Energiewende ist damit demokratisch legitimiert. Erweist sich ihre Umsetzung als komplizierter und kostspieliger als erhofft, dürfen die Konsequenzen bedenkenlos der Bevölkerung aufgebürdet werden. Die Bürger haben den Atomausstieg begrüßt oder jedenfalls nicht gegen ihn opponiert. Daher sind ihnen auch die Opfer zuzumuten, die nun erbracht werden müssen.

Zudem haben sich die Bürger längst daran gewöhnt, daß große Infrastrukturvorhaben in unserem Land, mag die Verantwortung bei der öffentlichen Hand oder der Wirtschaft liegen, aus dem Ruder laufen. Es ist eher die Ausnahme, wenn sie fristgerecht abgeschlossen werden und den Kostenrahmen nicht überschreiten. Dies als Indiz für ein Schwinden der planerischen und organisatorischen Kompetenz der Deutschen zu werten, ist indes unredlich. Eher ist ihnen ein ungebrochener Mut zu attestieren, den großen Wurf zu wagen, auch wenn er mit Risiken behaftet ist. Nicht zuletzt die Politik hat sich hier in den vergangenen Jahren Meriten erworben. Von der Energiewende über die Ausländerintegration bis hin zur Euro-Rettung hat sie vielfältig Neuland betreten. Mit Fug und Recht kann sie daher ihren Kritikern entgegenhalten: Wer Visionen hat, wird doch wohl auch scheitern dürfen.

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